Erinnerungen von Adele Benzler (1863-1923)
Meiner lieben Tochter Elisabeth Benzler und durch sie meinen anderen Kindern.

Erinnerungen. Niedergeschrieben (von Hand in deutscher Schrift) von Adele Benzler geb. Droste. (1922/1923)

3.11.1922. Daß ich heute anfange, meine Erinnerungen aufzuschreiben, geschieht auf Wunsch meiner Kinder, die mich gern aus vergangenen Zeiten erzählen hörten und wissen, daß mit mir dereinst manch? Erleben begraben und vielleicht auch vergessen wird. So will ich denn mit meinem frühesten Erinnern anfangen. Da mag ich wohl ein kleines Mädchen von etwa 3 Jahren gewesen sein. An Hand meiner Mutter erklomm ich einen mir unendlich hoch erscheinenden Berg, ich sah zu Mutters Hand hinauf und erinnere mich, daß Mutter ein lichtes Kleid trug und sehr fröhlich war. Auf dem Nachhauseweg nahm sie mich mit in ein kleines Häuschen, in dem wir eine weinende Frau trafen, die uns die an der Wand hängenden Röckchen und das Kleidchen ihres von Zigeunern entführten Meinen Töchterchens zeigte, welches Alma hieß. Ich erinnere mich ganz genau noch daran. So ängstlich und mitleidig war ich und habe noch jahrelang später mich nach dem verschwundenen Kind erkundigt. Meine Mutter befand sich damals auf einer Badereise. Dann eine schwache erste Erinnerung an zu Hause: im warmen Bett meiner guten Kinderwärterin Luise, während sie und das Küchenmädchen aufstanden und die kleine Lampe große, huschende Schatten an Decke und Wand warf. Späterhin hat mir meine Mutter gesagt, ich hätte bei der Luise im Bett schlafen dürfen, wenn Mama und Papa zum Ball gewesen seien, denn Luise wäre so gut und zuverlässig mit mir gewesen.

Dann wieder eine Erinnerung aus frühester Kinderzeit an das liebe Großelternhaus, in Schwanenberg, besonders an Großpapa mit seinen silberweißen Locken. Das Kanapee aus glänzendem schwarzem Pferdehaarstoff stand vor einem der tiefen Fenster, er saß rauchend darauf und ich stand in der Fensternische hinter ihm und durfte ihm zu meinem großen Entzücken mit einem kleinen Taschenkamm durch das Haar fahren. Auf dem Ecktisch stand eine glänzende, hellbrennende "Moderateur-Lampe", an der ab und zu gepumpt wurde. Das war etwas anderes als sonst die Öllampen oder Kerzen, die man mit einer mir sehr interessanten Lampenschere "schneuzte". Im großelterlichen Pfarrhaus gab's in Küche und Schlafkammern nur grüne Öllampen mit heraushängendem Docht, und in Erklenz, der Kreisstadt, die wir auf unserer Fahrt in der Postkutsche durchqueren mußten, schaukelten Laternen an eisernen Ketten, die über die Breite der Straße von Haus zu Haus gespannt waren und eine geringe Helligkeit mit Dunstkreis verbreiteten. Ich habe nur meinen Großvater väterlicherseits gekannt, meiner Mutter Eltern waren schon tot und ebenfalls die richtige Mutter meines Papas; aber Großvater hatte eine zweite Frau, an die ich nicht viele liebe Erinnerungen habe. Da ich nun bei den Großeltern in Schwanenberg bin, will ich zunächst auch von ihnen erzählen, teils Gehörtes, teils auch Erlebtes. Mein Großvater war als Sohn des Hofpredigers Droste in Detmold im lutherischen Pfarrhaus geboren, in dessen schwerer, eichener Haustür noch heute sein von ihm eingeschnittener Namen: F.D. zu sehen ist. Das war ein unruhiges Leben seiner Zeit in dem hochgiebeligen Pfarrhaus, in dem lange fünferlei Geschwister wohnten, resp. einkehrten. Denn nach dem Tode seiner lieben und schönen ersten Frau, die eine geborene Benzler aus Lemgo war, hatte der Urgroßvater zunächst als zweite Frau eine Doktorin Werfel geheiratet, die noch einen Stiefsohn und einen eigenen Sohn hatte, und dann hatte er nach deren Tod die dritte Frau genommen, die der Familie Reinold entstammte und mit der er noch eine Tochter "Adolfine" bekam. Mein Großvater aber war aus erster Ehe. Diese ist sehr glücklich gewesen, wie sie ja auch aus Jugendliebe geschlossen war. Denn schon seinerzeit, als der Urgroßvater Droste mit seinem zukünftigen Schwager Benzler die Universität in Göttingen besuchte, schlug sein Herz für Anna-Justine-Henriette Benzler. Wir besitzen noch ein Bild von ihr, das einen großen Liebreiz hat. Sie ist darauf in der Tracht der Königin Luise dargestellt mit kurzem, gleich unter der Brust gebundenem Kleide aus fahlgrüner Seide. Auf den rötlich blonden, langen Locken liegt ein zarter, durchsichtiger, großgepunkteter Schleier, und die blauen Augen schauen ernst und freundlich.

Anna-Justine war die Tochter des Hofassessors Benzler, der seine fünfzehnjährige Base Anna-Elisabeth Benzler in Lemgo als seine zweite Frau. heimgeführt hatte. Sie war fast noch ein Kind gewesen, als er sie heimführte, und oft hatte die Magd sie vom Ballspiel hereinrufen müssen, wenn der Bräutigam kam: "Juffer, Juffer, der Brügam kommt." Aus der ersten Zeit ihrer Ehe erzählt man noch, daß sie, als die Mama Rätin besorgt gefragt habe, was sie denn heute zu Mittag gekocht habe, fröhlich gesagt habe: "Mohrrüben und Kartoffeln!", und auf die weitere Frage "Was denn gestern?": "Ei, Kartoffeln und Mohrrüben!" Das Bild der jungen Anna-Elisabeth besitze ich noch: ein frisches Mädchenantlitz mit kurzer Puderperrücke und ein paar Hängelocken, mit tief ausgeschnittenem, buntem Damastseidenkleid, und in der Hand eine wohl damals sehr kostbare goldene Taschenuhr. Ihr Gemahl ebenfalls mit lockiger, weißer Perücke, in rotem, goldbetreßtem Sammetrock und schwerer Brokatweste, mit heiterem, hübschem Gesicht, das unendlich viel Wohlwollen ausdrückt. Von Anna-Elisabeth besitze ich noch ihren Katechismus mit dem langen Lieder- und "Gebät"-Anhang. Zwischen den Blättern liegen noch die zierlichen kleinen, mit einem Federmesser ausgeschnittenen. und bunt angemalten Bildchen, die größtenteils recht weltliche Gegenstände darstellen, z.B. eine Liebeslaube xx. Auch sind noch schalkhafte Neujahrsgratulationen an die Demoiselle Benzler vorhanden.

Aber ich irre wohl zu weit ab, denn all die bekannten Benzler-Vorfahren will ich hier nicht aufzählen, die sind im "roten Buch" verzeichnet und gehen bis ins 16. Jahrhundert zurück. Drum also wieder zu dem Schwanenberger Pfarrhaus und meinem Großvater Friedrich-Georg-Karl Droste.

Er war das vorjüngste Kind aus der ersten Ehe des Hofpredigers Droste an der lutherischen Kirche in Detmold, des Seelsorgers der für Lippe so verdienstvollen Fürstin Pauline. Dieser ist ein lebhafter, geistreicher und streitbarer Herr gewesen, und man erzählt noch heute von seiner Beliebtheit auch bei den geringen Leuten. Er stammte aus Lemgo, wohin seine Eltern anscheinend ausgewandert waren, denn die Großeltern haben noch in Wagenfeld bei Diepholz (im Osnabrück'schen) einen großen Hof gehabt und dort erst den Namen Droste bekommen, nachdem auch ihr Hof der "Droste-Hof" genannt worden war, der heute noch besteht. Das ging folgendermaßen zu: vorher hatte der Ältervater (Großvater) Rempe gehießen, und er und seine drei Brüder haben jeder einen "Rempenhof" gehabt. Weil aber der damalige Landdrost durch die "Rempen" und ihre vier Rempenhöfe nicht gut hat durchfinden können, hat er verlangt, daß unser Ältervater Drost (Amtmann) über die Rempenhöfe sein solle und nun auch den Namen Droste annehmen müsse. Zuerst sind die Kinder jenes Ältervaters im Kirchenbuch noch auf den Namen Rempe angeschrieben worden, aber die später geborenen Kinder schon auf den Namen Droste. Die vier Höfe sollen heute noch vorhanden sein, und vor einigen Jahren sind reiche Leute aus Amerika da gewesen, die erzählt haben, ihr Vorfahr hätte den Droste-Hof besessen. Aber ich weiß zu ihnen keine Verbindung. In Lemgo scheinen die Drostes, ebenso wie viele der Benzlers, einen Handel gehabt zu haben. Zwei Schwestern des Urgroßvaters waren auch in jener alten Hansestadt verheiratet, die eine an einen Thospan, die andre an einen Wippermann, also in angesehene Familien hinein, denn das alte Wippermannsche Haus (mit seinem) aus rotem Sandstein ist mit seinem kunstvollen Giebel noch heute eins der schönsten in der Stadt. Dieser Urgroßvater Friedrich-Adolf Droste hatte vor seinem Ende einen sehr merkwürdigen Traum. Ihm träumte, daß eine weiße Hand auf seine ausgestreckte Hand in lateinischer Sprache schriebe: den vom Schlage Getroffenen wird man an einem andern Ort beerdigen." Sofort zündete er, da er Hellwach wurde, ein Licht an und schrieb jene Traumworte auf. Als er nun einmal in Lemgo zu predigen hatte, bekam er auf der Kanzel einen Schlag, wurde noch in das am Markt gelegene Haus seiner Schwester Thospan gebracht, starb, und wurde in Lemgo begraben.

Letzteres ist mir wohl immer etwas zweifelhaft gewesen, denn Detmold war doch nicht so weit, und ich kann mir schlecht vorstellen, daß man den lutherischen Hofprediger nicht durch die eigene Gemeinde heimgeholt hat. Indessen meine alte Tante Emma Reinold, die Schwester meines Vaters, blieb bei dieser Aussage.

Diese Tante schenkte mir, als ich s.Zt. mit meinem lieben nachherigen Mann, Hans Benzler, in unserer Brautzeit kurz in Detmold zu Besuch war, einen schönen alten Kasten mit einem Geheimfach, in dem der Urgroßvater seine und seiner Liebsten Brautbriefe aufbewahrt hat. (Jetzt in meines Sohnes Arnd Besitz). Leider hatte die Tante indessen jene Briefe einmal in einer verärgerten Stunde verbrannt, da ihre halbwüchsigen Jungens darüber geraten waren und sich sehr über den so förmlichen Inhalt derselben, die Anrede "Liebe Jungfer Braut", das Sie-nennen ergötzt hatten. Also im Jahre 1783 hatte Friedrich-Adolph Droste die Jungfrau Anna-Justine-Henriette Benzler heimgeführt, und hundert Jahre später, 1883, verlobte ich mich, die ich die Urenkelin jenes Paares war, mit meinem bis vor Kurzem mir noch ganz unbekannten Vetter Hans Benzler, einem Urenkel von Henriettes beiden Brüdern: Friedrich-August Benzler in Bückburg und Johann-Lorenz Benzler in Werningerode, so daß die beiden Familien Benzler-Droste zum zweiten Male eng verbunden wurden.-

Wieder bin ich weit abgeschweift und kehre nun zu meinem Großvater Friedrich-Georg-Karl Droste, dem Superintendenten in Schwanenberg zurück, um von ihm aufzuschreiben, was ich weiß. Aus seiner Jugendzeit und seinem zahlreichen Geschwisterkreis ist nicht viel überliefert, außer, daß einer der Stiefsöhne seine Stiefschwester Droste so gern habe heiraten wollen, diese aber gesagt habe, sie kennten sich doch schon viel zu genau. Im Übrigen soll viel Unfrieden zwischen den Stiefgeschwistern geherrscht haben, die 2. Frau. war nicht gut zu den Kindern der ersten, doch ihre Kinder sind nicht sehr alt geworden. Dagegen die einzige Tochter der 3. Frau hat ein hohes Alter erreicht und noch ihre Großneffen und -Nichte nach dem frühen Tode ihrer Eltern (Pastor Eduard Droste und Auguste Keibel in Berlin) erzogen und betreut.

Als mein Großvater sein Studium vollendet hatte, wurde er zunächst Konrektor in Horn in Lippe, wo er auch manchmal in der hübschen alten Kirche, vor der der immer fließende, plätschernde, schöne Brunnen steht, gepredigt hat. Dann wurde er zum Pfarrer nach Rügeberg bei Arnsberg gewählt und lernte dort seine zukünftige Frau., die Sophie Lohmann aus Schwelm, kennen, ein sanftes Mädchen mit großen, dunklen Augen, die er 1826 als Gattin heimführte und schon 1o Jahre später durch den Tod verlor. Sophie entstammte einem wohlhabenden, evangelischen Hause und brachte schöne Kirschbaummöbel und einen reichen Leinenschatz mit in die Ehe, und es ist wohl bitter für ihre Töchter Mathilde und Emma gewesen, daß sie, als die 2. Mutter ins Pfarrhaus einzog, den Namenszug ihrer verstorbenen Mutter auf Geheiß der neuen Frau ihres Vaters heraustrennen und das Leinen umzeichnen mußten. Mein lieber Vater ist bei dem Tod seiner Mutter erst ein halbes Jahr alt gewesen, und so kann man wohl verstehen, daß Großvater sich bald eine neue Frau suchte und ein Jahr später die schöne und kluge, aber nicht herzenswarme Julie von Hüls, die dreißigjährige Tochter eines douaniers (Steuereinnehmers) aus Mörs heiratete, die ihm erst nach einer Reihe von Jahren 2 Töchter schenkte, Anna und Marie. Diese zweite Frau war äußerst sparsam. Aus Milch und Butter des großen Pfarrhauses, das wie ein Gutshaus seine verschiedenen Ställe und Scheunen besaß, wußte sie sich viel Geld zu ersparen. Der Großvater soll einmal eine unter dem Ehebett versteckte Kiste voll harter Thaler gefunden haben. Mein Vater erzählte manchmal, daß die Kinder der wohlhabenden ersten Frau jedes nur 600 Thaler geerbt, die Kinder der zweiten, vermögenslosen aber mehr als das Zehnfache erhalten hätten. Wie dem auch sei, ich erinnere mich ihrer nur als einer sehr klugen, alten Frau, gerade in ihrem Lehnstuhl, fast 80 Jahre damals alt, sitzend, vor der wir alle einen gewaltigen Respekt hatten.-

Als kleines Mädchen bin ich oftmals wochenlang in Schwanenberg gewesen, denn ich war ein zartes Kind, und die Landluft und kuhwarme Milch sollten mir gut tun. Es war dort solch liebe einzig gute Haushälterin, "Tante Minchen" genannt, an der ich mit großer Liebe hing und sie lange Zeit für das allerbeste Wesen dieser Erde hielt. Das Pfarrhaus war ein breiter zweistöckiger Bau mit überhängendem Dach und mit Fenstern voll kleiner Rubenscherben. Die Haustür lag in der Mitte; durch sie konnte man direkt in den Pfarrgarten mit seiner über dem Mittelwege des Gartens errichteten großen Laube und auf die vielen Blumen und die Obstbäume und Sträucher sehen.

Das ganze Anwesen erschien wie ein großes Gehöft, denn vor dem Hause war ein großer Hof der an beiden Seiten und auch gleich beim Eingang durch das schwere, gewölbte, eichene Tor von Scheunen ganz umschlossen war. Um die Gebäude herum zog sich außen ein breiter Wassergraben, der aber meist trocken lag und mit hohen Stauden bewachsen war. Vor dem Tor war eine breite Brücke, und alle Scheunen hatten Schießscharten. Trat man nun aus dem Pfarrhof hinaus, so kam zuerst ein grüner Anger, auf dem im Sommer unendlich viele Marienblümchen wuchsen, aus denen ich mir viele Kränze flocht und dabei verträumt auf das ernste Rauschen der hohen Pappeln lauschte, die eine Seite der Wiese begrenzten. Ein schmaler Pfad führte durch das Grün gleich in die davorliegende, trauliche Dorfkirche hinein, in die ich manchmal mitgenommen wurde und dann etwas verängstigt in der hohen Pastorenbank neben den großen saß und nicht recht wußte, wie ich mich zu benehmen hatte. Ich erinnere mich noch gut daran, daß Großvater vor dem Altare stand und dann auf die Kanzel stieg, und daß die Bauern so viel mit den Füßen scharrten und husteten. Wenn man ins Pfarrhaus eintrat, so war links gleich die "gute Stube", die mir immer sehr feierlich vorkam. An ihren Wanden hingen in ganz schlichten, schmalen Goldrahmen die Ölgemälde der Urgroßeltern Droste aus Detmold, dann die Eltern von Anna-Justine-Henriette Benzler, geb. Benzler, denn ihre Mutter hatte die letzte Zeit ihres Lebens als Witwe in Detmold gewohnt und so waren ihr und ihres Mannes Ölbilder (Johann-Lorenz Benzler und Anna-Elisabeth Benzler, geb. Benzler) zugleich mit denen derer Eltern und ihres Großvaters (Jobst-Henrich Benzler, Bürgermeister in Lemgo und s. Ehefrau Anna-Elisabeth, geb. Schnitger, und des alten 93-Jährigen Hans-Lorenz Benzler, Kauf- und Handelsherr in Lemgo) auf die Frau und weiter auf die Familie des Hofpredigers Droste vererbt worden. In späterer Zeit, nach dem Tode des Schwanenberger Großvaters, hat mein Vater diese "Ahnenbilder" käuflich aus der Erbmasse durch Höchstgebot erworben und dann, ein Menschenalter später hat sie mein lieber Mann wieder für seinen ältesten Sohn angekauft, damit sie bei dem alten Namen Benzler nun ferner bleiben sollten. In der Großeltern guter Stube war man nur bei ganz feierlichen Gelegenheiten, trank da Kaffee und bekam dazu herrliche Waffeln oder selbstgebackenen Kuchen. Hinter dieser Staatsstube, doch nicht mit ihr verbunden, lag das Arbeitszimmer des jungen Hilfspredigers, "Kandidaten" meines Großvaters. Rechter Hand vom Flur kam zuerst die große Leuteküche mit einem riesigen Eisenherd. Sie hatte roten Ziegelsteinboden und zwei Fenster zum Hof hin und in ihr wurde auch immer die Butter im Butterfaß gedreht und nachher in weiter Holzmulde ausgewaschen und dann geformt. Aber nur ganz selten wurde diese Küche zum Kochen benutzt. Das geschah in der mit ihr verbundenen "kleinen Küche". Auch führte eine Tür aus der Vorküche direkt in das Eßzimmer, das tiefe Fensternischen und einen langen weißgescheuerten Tisch hatte, hinter dem das Roßhaarsofa stand. Von der kleinen Küche muß ich noch erzählen. Nahe am Fenster stand eine blanke kupferne Pumpe mit Spülstein, auf den auch die Milcheimer, sobald sie aus dem mit mehreren Kühen besetzten Stall kamen, gestellt wurden. Ehe die Milch durch ein Linnensieb durchgeseiht wurde, durfte ich mit einem bunten "Köppchen" (so nannte man die henkellosen kleinen Tassen) den Schaum von derselben abnehmen und trinken, was für mich immer ein hoher Genuß war. Dem Tisch gegenüber stand an der Wand ein hohes Regal mit vielen Brettern, darauf die grausteinernen Milchsatten, in denen die Milch zum Sauerwerden aufgestellt wurde. Die Magd nahm dann mit einem breiten Holzmesser die dicke Rahmschicht herunter, um Butter zu machen. Unter den Milchsatten standen eine Reihe blanker Zinnteller, von denen das Gesinde aß. Im Zimmer benutzte man Porzellan.

Dann, unter den Zinntellern, lagen auf einem Brett viele alte Kalender und Gesangbücher. Lesen konnte ich damals noch nicht, aber stundenlang besah ich mir die feinen Stiche in den Kalendern und dachte mir selbst die Geschichten dazu aus. An der Rückwand der Küche war der Herd, darüber ein großer Rauchfang, in den ich gern die Funken sprühen sah. Da hatte auch die kleine grüne Öllampe ihren Platz. Für gewöhnlich hielt sich die Familie in dem neben der Küche gelegenen Eßzimmer auf. Darin war auch ein Nähtisch in der zum Garten gelegenen großen Fensternische, vor der eine Tanne stand und oftmals das Zimmer frühzeitig dunkel machte. Mit dem Eßzimmer verbunden war das Wohnzimmer, das sogenannte "blaue" Zimmer mit kornblumenfarbigem Ölanstrich. In demselben stand ein Sofa mit einem runden Tisch davor, über dem Sofa waren oreillers an der Wand aufgehangen, an denen die großen Leute ihren Kopf anlehnen konnten. Dann war noch ein Klavier in der Stube, auf dem mein Onkel Adolf Droste so wunderschön auswendig spielen konnte, über demselben hing eine Zeichnung meines Onkels Eduard, "Der alte Krieger und sein Kind", die so fein gearbeitet war, daß sie einem Stahlstich verwechselbar war.

Oben im Haus waren nur die verschiedenen Schlafzimmer und eine Rumpelkammer, in der ich einstmals eine große Puppe mit grobem, holzgeschnitztem Kopf, grellgemalten Gesichtszügen und schwarzen Haaren fand. Dann kam noch der Boden, auf dem auch das Getreide aufbewahrt wurde und auf den ich mich nie hinaufgewagt habe, weil man beim Einschlafen abends immer die Ratten Lärm machen horte. 0 du liebes, altes, trautes Großvaterhaus, welch selige Kindererinnerungen schließt du doch ein!

Aber ich habe noch vergessen, das Studierzimmer meines Großpapas zu erwähnen! Das lag hinter dem ehelichen, nur mit einem breiten Bett versehenen Schlafgemach der Großeltern, war aber besonders erreichbar. Da stand oder saß mein guter Großpapa immer an dem hohen Pult vor dem Fenster und war immer so gut und so freundlich mit mir. Ich durfte da herumkramen, so viel ich nur wollte, und packte oft ganze Stöße von Büchern und Heften von seinem dichtbesetzten Bücherbort auf die Dielen. Und etwas ganz brennend Interessantes war noch außerdem in der Studierstube: ein rundes Loch im Fußboden, durch das man in die Eßstube gucken konnte und durch das manchmal Großpapa, erst mit dem Stock aufstoßend, seine Wünsche herunterrief. An einen Sommertag in Schwanenberg muß ich mich noch oft erinnern. Die Leute waren in der Heuernte, Großpapa und Großmama ausgefahren und "Tante Mienchen" nirgends zu entdecken. Ich glaubte mich ganz verlassen in dem weiten Hause und saß auf der sonnendurchwärmten, glatten Steinplatte der niedrigen Treppe vor der Haustür, hatte die Enten und Hühner gefüttert, die mir die Körner von den Schuhen und aus dem Schürzchen pickten, und schaute nun den Weg zum Hoftor hinunter, der von rosa, gelben und violetten Stockrosen (Malven) eingesäumt war. Da, o Schrecken, öffnete sich das schwere Hoftor und herein kamen Zigeuner mit einem großen, braunen Bär, den sie an einer eisernen Kette, die ihm an einem Nasenring herunterhing, mit sich führten. Der Eine fing gleich an, dröhnend eine große Trommel zu schlagen. Mich überfiel eine fürchterliche Angst. Mit einem Sprung war ich im Flur und warf die Haustür dröhnend ins Schloß. Dann rannte ich, die Tür zum Garten wieder hinter mir zuschlagend, durch den Garten hinten weit in den Baumgarten und versteckte mich in hohem Gebüsch. Lange, lange saß ich zitternd dort, hörte den Lärm der Trommel und wagte nicht, ins Haus zurückzukehren. Erst nach Stunden kam ich zurück und war sehr erstaunt, daß das Gesinde ruhig jetzt seiner Arbeit nachging und nichts passiert war. Da schämte ich mich meiner Furcht. Ich hatte geglaubt, das Haus würde halb ausgeräubert sein. Aber gewiß war "Tante Mienchen" doch dagewesen und hatte alles Unheil abgewehrt.

Einer anderen schrecklichen Stunde erinnere ich mich. Da hatte mich der junge Kandidat auf den Arm genommen, hatte mich etwas im Hof herumgetragen und landete schließlich mit mir im Kuhstall, wo er mich aus Spaß, mich in den Armen haltend, in die Kuhkrippe legte. Die große braune Kuh beugte ihren Kopf über mich, ich schrie wie wahnsinnig vor Entsetzen, so daß er mich rasch hochriß. Es war aber wirklich schrecklich.

Meine beiden Tanten, die Stiefschwestern meines Vaters, Maria und Anna, waren noch bei den Großeltern, als ich als eben dreijähriges Mädelchen mal in Schwanenberg war. Sie mußten nach dem Kaffeetrinken immer das gute Geschirr im Eßzimmer selbst spülen, denn das durfte nicht in die Küche kommen. Genau sehe ich sie noch bei ihrer Hantierung. Dann, ein Jahr später, erinnere ich mich noch an die Rückkehr meiner Tante Anna von der Hochzeitsreise. Ich war mit Mama in dem neu eingerichteten Hause; ich hatte Grün zum Kränzen anreichen dürfen. Tante Anna ist damals 20 Jahre alt gewesen und soll sehr hübsch ausgesehen haben. Sie heiratete den Compagnon meines Vaters, Peter Peltzer, der wie ein dicker Jude aussah, aber immer ganz vernarrt in seine Frau war. Marie war noch unverheiratet, und es mag doch wohl erst zu einer späteren Zeit gewesen sein, als ich bemerkte, daß "Tante Marie" sich von dem jungen Kandidat Lühl immer heimlich küssen ließ, und daß ich ganz beleidigt zurückwich, als er auch mich kleines Ding auf seinen Schoß nahm und mich küssen wollte. Die beiden heirateten 1871 und kamen in das Pastorat in Kirchseiffen in der Eifel, wo Haus und Kirche unter demselben Dach liegen.

Als ich erst zur Schule ging, bin ich wohl selten für längere Wochen in Schwanenberg gewesen. Aber manchmal fuhren meine Eltern früh am Sonntag zugleich mit den Verwandten von Großmama nach Schwanenberg hinaus. Diese Verwandten hießen Lamberts und waren sehr reich, hatten auch eigene Pferde und Wagen, während die Eltern eine Mietdroschke benutzten. Frau Lamberts war eine Schwester der Großmama, eine geborene von Hüls. Sie kam als Haushälterin zu dem verwitweten, frommen und reichen Herrn Lamberts und hatte auch dessen beide Kinder zu versorgen. Da hat er denn manchmal gehört, daß sie mit lauter Stimme in ihrem Schlafgemach "für den armen Witwer und seine verwaisten Kinder" gebetet hat. Da rührte sein Herz und er nahm sie zum Weibe. Aber sie hatte etwas Gutes und Mütterliches, und auch wir Kinder mochten sie gern. Als ich 9 Jahre alt war, starb mein guter, von mir so geliebter Großvater. Einige Jahre vorher hatte er noch in Schwanenberg sein 50jähriges Amtsjubiläum gefeiert, wozu ihm seine Gemeinde eine wunderschöne Standuhr geschenkt hatte, auf deren Marmorsockel die vergoldeten Figuren des Christusknaben und Johannes des Täufers stehen. Ein echtsilbernes Glöckchen im Gehäuse gab helltönend die Stunden an. Diese Uhr ist jetzt in meinem Besitz, und über ihr hängt eine wohlgelungene Bleistiftskizze der Kinder aus Großvaters erster Ehe, auf der mein guter Papa als das Kleinste einen Apfel in der Hand hält. Gerade an Königs Geburtstag, 22.3., war es, daß Großvater starb. Kurz vorher hatte ich ihn noch in Schwanenberg gesehen. Er saß mit dick angeschwollenen Beinen mit Decken versehen in seinem Lehnstuhl und hatte noch meine saubere, hübsche Kinderhandschrift in einem Neujahrsbrief an ihn gelobt. Wir Kinder fuhren mit den Eltern zum Begräbnis. Mein Bruder Carl ging neben mir, die ich ein schwarzes Kleid und schwarze Seidenbänder in den langen Zöpfen trug, hinter dem Sarge, dann kamen die singenden Schulkinder und dann die großen Verwandten und unendlich viele Leidtragende aus den nahen Städten und Dörfern. Mir war sehr traurig zu Mut, und ich konnte garnicht verstehen, daß es nachher beim Leichenkaffee in der Lehrerstube, in die ich geraten war, so munter und laut zuging und daß man so viel Kaffee trinken und Kuchen essen mochte. Abends, beim Zubettgehen, beschloß ich aber zum Zeichen meiner Trauer meine schönen schwarzseidenen Haarbänder nicht abzulegen, worüber Mama anderen Tages etwas ärgerlich war.

Nun versinkt Schwanenberg und taucht nur noch selten in der Erinnerung auf, wenn wir an Gedenktagen dorthin zum Friedhof hinausfuhren und Kränze auf Großvaters Grab legten. Aber trotz dieser trüben Veranlassung konnte es mein guter Papa doch einmal nicht unterlassen, über den Zaun in seinen alten Baumgarten zu klettern, wo er sich ein paar von Jugend auf besonders geliebte Apfel pflückte. Guter Papa, wie viele Erinnerungen sind wohl dabei in Dir wach geworden! Oft erzähltest Du mir aus Deiner Jugend: wie die Stiefmutter so streng gewesen sei, daß du auf Holzschuhen mit Stroh darin später nach Erkelenz hättest zur Schule gehen müssen und nachmittags, nach Hause zurückgekehrt, etwas aufgewärmtes Essen vorgefunden und dann die Kartoffeln hättest schälen müssen!

Eine ganz kurze Zeit bist Du dann noch auf dem Detmolder Gymnasium gewesen und hast bei Deiner guten Schwester Sofie Kestner gewohnt. Dann, vierzehnjährig, kamst Du nach Gladbach zu Verwandten in die Lehre und hast Deine Eltern nichts mehr gekostet. Du bist sehr fleißig und brav gewesen und hast nach den Lehrjahren die Stelle eines Reisenden für die große Spinnerei bekommen und dann lerntest Du unsere Mutter kennen, hieltest bei Großmama Schürmann um ihre Hand an und führtest sie 8 Wochen nach deren Tod als Deine liebe junge Frau heim.

Von Großmutter Schürmann, die den schönen Namen Regine trug, weiß ich nur vom Hörensagen. Ihres Vaters entsann sich meine Mama nur als ihrer allerersten Kindheitserinnerung. Da stand sie mit gefalteten Händchen an seinem Sarge und schaute in das totenbleiche Angesicht! Großvater hieß Franz Daniel Schürmann, hatte verschiedene Häuser in Lennep und verkaufte die von Handwebern hergestellten feinen Tuche zumeist auswärts. Dann wurde sein Pferd gesattelt, und er band die große Geldkatze um. Ein Diener begleitete ihn, ebenfalls zu Pferd. Vor jeder Reise nahm er aber erst das heilige Abendmahl, denn die Straßen waren oft unsicher und der Weg weit.

Man erzählt, daß eine der Urgroßmütter dieses Großvaters eine ungarische Gräfin gewesen sei, von der auf die Nachkommen die leichte Art, Geld auszugeben, überkommen sei. Aber die Großmutter war eine energische, geschäftstüchtige und doch sanfte, liebe Frau, die mit ihren Kindern wohl manche Not gehabt hat. Die Buben, Richard, Wilhelm und Hugo, gab sie in die Cortiansche Erziehungsanstalt nach Bonn. Von den Mädchen, Emilie, Ernestine und Fanny, starb Emilie schon 19-jährig als die junge Frau von Eduard Moll in Lennep an der Schwindsucht nach 7 Monaten glücklichster Ehe, und ihr noch ungeborenes Kindlein wurde (da man den Kaiserschnitt vielleicht noch nicht kannte), mit ihr begraben. Ernestine heiratete Friedrich Busch in M.-Gladbach und Fanny, meine Mama, meinen Vater Carl Droste.

Großmutter hieß als Mädchen Regine Kumbruch und hatte in Lennep eine ausgedehnte Verwandtschaft. Mutter erinnerte sich oft noch mit Lachen an ihren Onkel Fuhrmann, den Schwager ihrer Mutter. Der ist damals schon etwas kindisch gewesen, ist aber oft zu ihnen in die Mühlenstraße gekommen. Dann hätte er beim Kaffeetrinken immer die Korinthen und Rosinen aus dem Weißbrot herausgepflückt, mißbilligend den Kopf geschüttelt und gesagt: "Gina, Gina, back doch nicht immer so viel Fliegen in den Platz." Einmal hatte ihn das ihm öffnende Dienstmädchen in die "gute Stube" geführt, und als Großmutter Regina herbeieilte, sah sie ihn mit hocherhobenem Stock vor dem zerschlagenen großen Spiegel, der vom Fußboden bis zur Decke ging, stehend, wobei er rief: "Der Kerl wollte mich schlagen, er drohte mir mit dem Stock. Da hab ich ihn geschlagen, nun ist er fort." Als kleines Mädchen hatte meine Mutter bei der schweren Cholera-Epidemie ein kleines fremdes, eben verwaistes Mädchen zu Großmutter ins Haus geführt und diese hatte es dann ganz versorgt, aber von der Erwachsenen später nur Undank erfahren. -

Wie Schön konnte meine Mama von dem nächtlichen Aufbrechen in der Weihnachtsnacht zur Christmette erzählen! Dann sang sie uns wohl mit ihrer vollen Altstimme das Lied aus der damaligen Zeit vor: "Hosiannah in der Höh! Singe, wer da singen kann! Daß ein jeder hör und seh, was Gott hat an uns getan. Seinen eingebornen Sohn sandte Gott von seinem Thron!" Noch höre ich ihre schöne Stimme, die wie eine Glocke klang und schwang! Noch ein andres Lied, zu dem es keine Melodie geschrieben gab, sang manchmal Mama: "Weißt Du, wo Lieb in Leiden, wo Leid in Liebe ist? Wer kann die beiden scheiden, der ihre Tiefen mißt? Ach, Liebe, Freud und Friede wohnt mir in Himmelshöh! Ich bin von Heimweh müde nach Liebe ohne Weh!-" Großmutter Schürmann war eine feingebildete und sehr akkurate Frau, die ihre Seidenkleider immer schön glatt gestrichen in der weitgeschweiften, großen Rokoko-Kommode, die noch im Elternhause stand, aufbewahrt hat. Auch war sie eine große Blumenfreundin und hat selbst immer ihren Blumenflor, der von allen bewundert wurde, in ihrem hübschen Garten gezogen. Mit meiner Mama, ihrer jüngsten Tochter, ist sie nie streng gewesen und hatte sie wohl ziemlich verwöhnt, denn das Hausmädchen Luise, die bei Großmutters Tod ihr schon 18 Jahre gedient hatte, lies nicht zu, daß das junge Mädchen auch nur die geringste Arbeit übernahm.

Im Nebenhaus wohnte mit seinen Eltern, einfachen Leuten, der kleine Röntgen, der spätere Entdecker der R.-Strahlen, der meine Mutter in ihrer Kinderzeit oft zu Bett gebracht hat. Als meine Mutter mit verschiedenen jungen Mädchen aus angesehenen Familien ihr Pensionsjahr auswärts verlebt hatte, verlobte sie sich bald heimlich mit einem jungen Volksschullehrer. Aber damit war Großmutter durchaus nicht einverstanden und trotz aller Tränen und Bitten ihres Töchterleins mußte es das Verlöbnis sofort abbrechen und der Mutter versprechen, "ihn" nie wiederzusehen oder ihm zu schreiben. Ja, Großmutter führte die Trennung so vollkommen durch, daß sie ihr schönes Haus in der Mühlenstraße in Lennep verkaufte, die bergische Heimat verließ und eine große Etage in M.-Gladbach mietete, wo inzwischen schon 2 ihrer Kinder, Wilhelm und Ernestine, verheiratet waren. Wilhelm Schürmann nahm Gertrud (Trautchen) Busch zur Frau und seine Schwester Ernestine deren Bruder Fritz, dann später Hugo Schürmann die Rosaie Busch aus M.-Gladbach, so daß da eine 3 x doppelte Verwandschaft entstand. Wie schön und fröhlich ist mit deren großem Kinderkreis später meine Jugend gewesen! Als nun Großmutter Schürmann in Gladbach wohnte, lernte meine Mutter bei der fast gleichaltrigen Charlotte von Hula deren Vetter Carl Droste aus Schwanenberg und auch dessen Eltern kennen und wurde dorthin zur Kirmeß eingeladen. Sie erzählte später noch gern, wie er ihr an einer der Buden in buntes Papier gewickelte Bonbons gekauft habe und sie beide gleichzeitig eins derselben ausgewickelt hätten und er darin ein Verslein gefunden habe mit der Frage: "Liebst Du mich?" und sie errötend die bejahende Antwort. Dann, nicht lange darauf, hielt Vater um das frische, hellblonde Mädchen an. Er selbst war in so engen, dürftigen Verhältnissen damals, daß er sich das gestärkte Oberhemd für diesen Gang sogar geliehen hatte. Aber Großmutter Schürmann nahm ihn freundlich auf, hatte nur das einzigste Bedenken, ob er nicht Logenbruder und Freigeist sei und gab ihm gern ihre Tochter, weil sie seine Familie schon kannte und schätzte. Die Großmutter ist damals schon sehr schwer leidend gewesen, und es war ihr wohl eine Beruhigung, vor ihrem nahen Ende zu wissen, daß ihr Kind einen ehrenhaften, guten Mann bekam. Die Aussteuer wurde durch die Schwester Ernestine genauso wie deren eigene angeschafft und so war denn schon nach 8 Wochen eine kleine stille Hochzeit, und das junge Paar zog fürs Erste in ein Haus auf der Wallstraße, und Vater bekam gleich durch seine Frau ein großes Vermögen in die Hände. Mit meiner Mutter Vermögen hauptsächlich wurde dann das Fabrikgeschäft gegründet. Die 3 Brüder Peltzer traten mit etwas Geldzuschuß als Compagnons darin ein. Handweber auf den naheliegenden Dörfern wurden beschäftigt und einige Jahre später eine mit englischen Webstühlen versehene eigene Fabrik gebaut.

Zunächst zogen Papa und Mama von der Wallstraße in die Krefelderstraße in das hübsche Haus, in dem ich nach stark zwei Jahren geboren worden bin. Ich hatte schon ein Brüderchen vorher gehabt, ein kräftiges, prächtiges Kind, das aber leider mit einer Hasenscharte geboren wurde. Es bekam den Namen Fritz, starb aber infolge von Blutverlust, 8 Wochen als, nach der Operation. In der Taufe erhielt ich die Namen: Adele, Julie, Charlotte. Der erst genannte, mir später so unschön deuchende Name war besonders beliebt bei meiner Mutter und sie hatte schon ihre Puppen so genannt. Julie hieß ich nach der Großmutter, geb. von Hüls, Charlotte nach Tante Lottchen von Hüls. Die Eltern sind sehr glücklich gewesen, nun ein ganz gesundes Kindchen zu haben, und meine Mutter nährte mich elf Monate selbst. In einem Brief meines Onkels Eduard Droste in Berlin fand ich mit Bezug auf mich später die Stelle: "Drostes Kindchen ist nicht hübsch, aber reizend freundlich."

Da ich nun natürlich nichts mehr aus meinen allerersten Lebensjahren weiß, will ich mein Elternhaus beschreiben, in dem ich noch 7 Jahre weilte, ehe das sehr große neue in der Kriegszeit 1870-71 gebaut wurde. Damals war Gladbach noch lange nicht so groß wie später. So war denn hinter unserem Garten, da, wo jetzt die Königsstraße ist, noch freies Feld. Unser Haus hatte eine Vorderseite mit 5 Fenstern, die Tür war in der Mitte. Rechter Hand trat man in die Wohnstube, in der gleich nahe der Tür ein Tafelklavier mit einer buntgestickten Klavierbank davor stand. Mit diesem Zimmer verbunden war das einfache Eßzimmer, aus dem man über den Flur gleich in die helle Küche gelangen konnte und auch in den neben derselben liegenden, mir unheimlichen Keller, in dem später so oft mein sehr eigensinniger Bruder Carl eingesperrt wurde, bis er artig war und endlich seine Suppe aß. Ja, einmal hatte er sogar den Teller voll Suppe auf die Erde geworfen, und ich war starr ob solchen Wagnisses, das ihm außerdem noch eine Tracht Schläge eintrug. Zur Straße hin war, der Wohnstube gegenüber, die "gute Stube", an die ich keine angenehme Erinnerung habe, denn in ihr bekam ich mit Bewußtsein von meiner leicht heftigen Mutter die ersten Schläge wegen einer zerbrochenen Tasse, wobei ich mir garnicht schuldig und zu Unrecht bestraft vorkam.

Oben, hinter dem dreifenstrigen Schlafzimmer, lag die Kinderstube, außerdem waren noch 8 Fremdenschlafzimmer vorhanden. Hinter dem Wohnhause kam zunächste der mit kleinen runden Steinen gepflasterte Hof mit Pumpe und Waschküche; dann, unserem Hause gegenüber, ein ebenso großes ähnliches Gebäude, doch ohne Gardinen, in dem das Kontor und die Lagerräume sich befanden. Aus dem Hof kam man seitwärts in einen langen, gepflasterten Gang, der ein 2 teiliges eisernes Tor zur Straße hin und ein kleines Türchen zum danebengelegenen großen Garten hatte. Dort im Gang standen manchmal Pferde und schwerbepackte Karren. Im Garten aber war nach der Straße hin auf einem Hügel eine sehr hübsche offene Veranda, in deren Mitte ein Baum mit tiefhängenden Zweigen sich über einen runden Tisch erhob, und von deren Ballustrade, die mit Pfeifenblatt und Wein bewachsen war, man so herrlich tief auf die Straße heruntergucken konnte. An den Blumengarten schloß sich noch ein großer Gemüsegarten an. Manchmal sah ich einen alten Mann in demselben arbeiten. Durch das Hoftor an der Straße hatte ich einmal leichtsinnigerweise meinen Kopf gesteckt und bekam nun, trotz heftigen Bemühens, ihn nicht mehr aus den eisernen Stäben heraus, bis ich so schrie, daß man mir zur Hilfe eilte, aber auch nur mit viel Mühe mich befreien konnte. Wie schön sah unsere Veranda doch aus, als 1871 die vielen schwarz-weiß-roten Siegesfähnlein von ihr herunterflatterten! -Fast 2 Jahre war ich alt, als mein Bruder Carl geboren wurde, dann, 3 Jahre später, mein Bruder Fritz und schließlich noch ein Schwesterchen Clärchen, am Tage der Krönung der Kaiserin 1871. Deswegen wollte Mama sie auch lieber Corona getauft haben, aber mein einfacher Papa stimmte nicht zu, wohl aber zu dem Zunamen Augusta-Maria. Was war doch der Klapperstorch damals für ein prächtiges und gutes Tier! Immer brachte er, außer dem Geschwisterchen, etwas ganz besonders Schönes, eine Puppe oder sonst ein Spielzeug, mit! Dann war der Jubel erst recht groß! Sogar bei meiner Tante Ernestine bedachte er uns, wenn uns da ein Cousinchen geboren wurde, mit einer dicken Apfelsine, einer Frucht, die man damals nur selten bekam. Der Kreis der Geschwisterkinder von Mutters Seite wuchs unheimlich, bei Schürmanns in der Wallstraße kehrte der Storch 14 x ein, bei Buschs 12 x, bei meinem Onkel Hugo Schürmann in Solingen 8 x. Aber viele der kleinen Bäschen und Vettern wurden schon in kurzer Zeit von den Engeln in den Himmel zurückgeholt, woher der liebe Gott ja dem Storch den Auftrag gegeben hatte. Ich besann mich oft sehr über die wunderbaren, mir unerklärlichen Dinge. Großvater in Schwanenberg selbst konnte nicht alle meine Fragen beantworten, und so sann ich denn in mir weiter, wer denn wohl den lieben Gott geschaffen habe und wann die Ewigkeit wohl ihren Anfang genommen hätte? Die Anlage zum Grübeln hat sich entschieden schon sehr früh in mir entwickelt, und wie manche Stunde meines Lebens hat sie mir doch unnütz zentnerschwer gemacht! Ich mag erst eben 3 Jahre alt gewesen sein, als ich eines Tages an Hand meiner Mutter die hohe Crefelderstraße hinanging und zum 1. Mal von ihr in die Kinderschule gebracht wurde. Mutter hatte einen Marktkorb am Arm der andern Seite und statt eines Mantels einen indischen Longschal um. Späterhin mußte mich gewöhnlich eines unserer beiden Dienstmädchen hinbringen. Man kam dabei an Onkel Christian Lamberts Haus vorbei, und dann war da am Nebenhaus ein 4 eckiger, kaum fußbankhoher, glatter Stein an der Mauer, auf den ich mich so gerne ein klein bißchen hinsetzen mochte. Auf dem Hause aber war ein winziges Türmchen mit einer Glocke darin, von dem mein Vater erzählte, man habe es seinerzeit als Notglöcklein anbringen lassen, denn dieses Haus war früher so weit von der inneren Stadt entfernt gelegen gewesen, daß man in bedrängter Lage durch Läuten Hilfe hätte herbeirufen können.

Die Kinderschule lag nicht weit vom Markt ab, ganz versteckt an einer engen Gasse. Da traf ich denn eine Menge kleiner munterer Gefährten, lernte auf niedrigem Bänkchen still sitzen, singen und beten und vor allem gehorchen. Dann auch so manches fröhliche Kinderspiel, "vom Fuchs, der die Gans gestohlen hat" und vom "Vöglein fi-fi" und vom "Engel der Geduld", unter dem ich mit nichts Rechtes vorstellen konnte. Draußen auf dem Spielplatz war ein Sandhaufen und eine Kastenschaukel, vor der wir Kinder sehnsüchtig standen und ruhig warteten, bis abwechselnd die Reihe an uns kam. Da waren auch 2 "Tanten", die Tante Johanna, eine junge, energische Schwester, und die von uns so sehr geliebte ältere Tante Luise. Hatte ein Kind Geburtstag, so durfte es eine Tüte mit Gebäck mitbringen, es waren meist die kleinen runden Möppchen, die wurden verteilt und man durfte dann, vor den niedrigen Bänkchen hockend, damit auf kleinen Blechtellern Kochen spielen. Am schönsten war's aber an Königs Geburtstag, dem 22. März. Dann brachte fast jedes Kind eine große Tüte mit; die ärmeren, die nichts mitgebracht hatten, bekamen davon auch einen Anteil, und dann begann für uns ein herrliches Fest, bei dem die Jungens ihre Fähnlein schwangen und wir viele Lieder sangen.

1864 mit dem Krieg gegen Dänemark war noch nicht lange vorbei, und noch kürzer war 1866 und der Krieg mit Österreich vorüber. Eines besonders schönen Festtages an der Kinderschule muß ich mich entsinnen. Es war das Jubiläum von Tante Luise. Am Tage vorher waren viele Kränze gewunden worden. Meine Mama zog mir ein hübsches weißes Kleid an und setzte mir ein Kränzlein von frischen Blumen auf das Haar. Wir versammelten uns im Hause der Vorstandsdame, der Frau Wits, wo schon viele festlich gekleidete Damen und auch der Herr Pastor warteten. Ich sollte der "Tante" die schöne neue Bibel überreichen nebst einem Kranz und dazu ein Verslein hersagen, das mußte ich schnell noch einmal den Damen zur Probe vordeklamieren. Dann ging man zusammen zur Kinderschule. Schon das Hoftor war fein bekränzt und innen alles voll Grün und Blumen. Als ich nun vortreten und Bibel und Kranz überreichen mußte, und dazu mein Verslein hersagen, war mir so feierlich und ängstlich, doch ich blieb nicht stecken, sagte es schön mit Betonung her, brach aber in lautes Weinen dann aus, als die gute, geliebte Tante sich über mich neigte, mir dankte, und mir einen Kuß auf die Stirn gab. Da rief ich schluchzend, mein eigenes Blumenkränzchen abnehmend: "Da, Tante, da hast Du auch noch mein Kränzchen" - worauf mich verschiedene Damen küßten und ich das doch garnicht mochte. Ein Jahr später konnte ich schon ohne Begleitung des Dienstmädchens den für ein Kind ziemlich weiten Weg zur Kinderschule wandern und führte dabei schon meinen kleinen Bruder Carl an der Hand. Aber einmal riß ein großes fremdes Mädchen unterwegs meinem Brüderchen sein Brötchen, das er in der Hand hielt, weg, und ich kam mir etwas großartig vor, daß ich ihm, der gleich losbrüllte, sofort das meinige schenkte und nun nichts mehr hatte.

In jener Zeit ist es auch gewesen, daß mir meine Mutter auf mein dringendes Bitten hin einen kleinen Straßenbesen schenkte und ein dunkelblaues leinenes Schürzchen machen ließ, damit ich mit unserm Mädchen zugleich die Straße kehren konnte. Das war ein herrliches Vergnügen! Die Vorübergehenden hatten oft ein scherzendes Wort für mich. Aber am allerschönsten war es doch, wenn der Priester in dem weißen Unterkleid mit dem klingelnden Meßknaben hinter sich die Straße entlang kam und ich dann fromm neben unserem katholischen Mädchen hinkniete, ein Kreuzchen schlug und für den armen Kranken betete. Meine Mutter wurde dieser Sache erst gewahr, als ich durchaus unter den weißgekleideten kleinen Mädchen, den Engelchen, in der Fronleichnamsprozession einhergehen wollte. Das durfte ich nicht. Wohl aber standen wir die lange Zeitdauer, bis die Prozession an unserm Hause vorübergewallt war, am Fenster unseres Wohnzimmers und sahen zu.

An den Nachbarskindern hatten wir fröhliche Gefährten. Sie kamen mehr zu uns als wir zu ihnen. Als aber mein Bruder ihnen unsere silbernen Trinkbecher und einige Spielsachen eines Tages geschenkt hatte, und sie dann an Hand unseres Mädchens auf Mamas Geheiß aus den betreffenden Häusern zurückholen mußte, blieben die kleinen Kameraden aus. Die Eltern derselben haben sich doch wahrscheinlich beleidigt gefühlt. Einmal spielten wir mit den Kindern der Ladenbesitzerin in dem uns gegenüber liegenden Hause. Es war am Niklastag und das Licht brannte schon. Bei uns war schon einmal das Christkindchen in holder Gestalt und langem weißem Kleid und Schleier (meine ältere Cousine Maria Schürmann, wie ich später erfuhr) erschienen gewesen und hatte uns Leckereien gebracht. Nun saßen wir also voll Spannung, denn wir wußten, heute sollte etwas Besonderes geschehen. Da polterte es mit großem Lärm die Treppe herauf und der Niklas kam herein und rief mit starker, grober Stimme: "Seid ihr auch artig? Ich steck euch sonst gleich in meinen großen Sack!" Auch ich erschrak heftig, konnte aber doch noch mein Gebetlein fertig bringen, mein Bruder Carl aber war völlig in Entsetzen und durch nichts zu beruhigen. Man mußte ihn nach Hause bringen, wo er in der Nacht schwere Krämpfe bekam und in eine Gehirnentzündung verfiel, von der er nur wie durch ein Wunder genas. Später in der Schule wurde ihm das Lernen sehr schwer. Während seiner Krankheit wurde ich zu meiner Tante Anna Peltzer gebracht, die ganz nahe bei uns wohnte, und wo inzwischen ein kleines schwarzlockiges Cousinchen, das Aenny hieß, angekommen war. Dieses Kind hing mit glühender Liebe an mir, und ich mußte es fast jeden Nachmittag besuchen, denn es hatte keine Gespielen, da ihm ein kleines Brüderchen sehr bald starb. Als ich einmal nach Hause gegangen war und es vergessen hatte, mir zu erzählen, daß das Kanarienvögelchen gestorben sei, hat es so hinter mir hergeschrieen, daß es einen Bruch bekommen hat. Es war ein reizendes Kind mit dunklen, blitzenden Augen.

Unter meinen kleinen andern Verwandten in Gladbach standen mir 3 fast gleichaltrige Cousinchen ganz besonders nahe. Bei Schürmanns in der Wallstraße war es die zarte, so saubere und artige Ruth, die wir Rüthi nannten; in Buschs Haus Clara und Käthchen. Rüthi war ein bißchen kleiner als ich und durfte manchmal meine hellgrauen oder hellblauen Stoffschühchen erben, wenn ich herausgewachsen war. Aber die Busch-Kinder waren gar groß und stark geraten, mit denen konnte man nicht gut über. Es ging auch dort im Haus alles lärmender zu als bei uns und Schürmanns. Wenn Clara und Käthchen zu mir spielen kamen, fuhren wir uns gern gegenseitig in meinem starken Korbpuppenwagen herum, aber das Käthchen warfen wir jedesmal mit Absicht um, weil es uns kommandieren wollte und unserer Meinung nach jünger war als wir. Als ich aber, 5 Jahre alt, zu Herrn Kramer und Fräulein Spielker in die Privatschule kam (die älteren Kinder von Buschs besuchten die Volksschule), erschien auch Käthchen in meiner Abteilung und blieb 2 Jahre meine Gefährtin, bis sie eines Tages dem Lehrer folgende Bestellung machen mußte: "Einen schönen Gruß von Vater und er hat gestern mal in unsrer großen Bibel nachgeguckt und ich wäre nicht 5, sondern erst 4 Jahre alt gewesen, als ich in die Schule gekommen wäre." Aha, da hatten wir's ja! Von nun an gehörte natürlich Käthchen für Clara und mich endgültig damals zu den Kleinen. Mein Onkel Wilhelm Schürmann war sehr leidend und überaus fromm. Damals gab's in unserer Gegend noch viele Pietisten, und auch sein Schwiegervater, der alte Matthias Busch in der Kapuzinerstraße, hatte zu ihnen gehört. Von ihm erzählte meine Mutter: Als im alten Buschs Haus die Kinder mal an Scharlach erkrankt waren, da bekam die kleine Sophie, die Zwillingsschwester von Trautchen, diese Krankheit so heftig, daß alle Hoffnung aufgegeben war. Der alte Großvater Busch hing aber an diesem besonders schönen und klugen Kind über alle Maßen. So lag er denn hinten in seinem Garten auf den Knieen und rang mit unserem Hergott, er solle ihm doch dieses Kind lassen. Er betete so lange, bis er der felsenfesten Überzeugung war, Gott werde ihn erhören. Und wirklich, das Kind genas, war aber blödsinnig geworden. Da hat der alte Busch nachher oftmals gesagt, man dürfe unserm Herrgott nichts abtrotzen wollen, sondern: "Dein Wille geschehe!" -Dieses Sophiechen ist sehr alt geworden und nach ihrer Eltern Tode zu ihrer Schwester Trautchen ins Haus gekommen, die so engelsgut war. Wir Kinder hatten immer einige Scheu vor dem blöden Sophiechen, das, unartikulierte Töne ausstoßend, mit seinem blanken, messingnen Kaffeekännchen durch die Stuben ging, von Tante Trautchen in der rührendsten Weise verpflegt und versorgt wurde und auch niemand etwas zu Leid tat. Damals lebte auch Martha Schürmann noch, die uns Kindern so wunderschöne Märchen erzählte und an ihrem 18.ten Geburtstag heimging und sich so auf den Himmel gefreut hatte. Auch sie litt, wie auch ihr Vater und auch der Großvater in Lennep, an der Schwindsucht. Mein Onkel Wilhelm hatte die richtige jahrelange Auszehrung, und es ist seiner sanften Frau doch gewiß manchmal schwer geworden, bei seinen Launen geduldig zu bleiben. Später erzählte sie mir mal, mit solch liebem, feinem Lächeln; weißt Du, Delchen, oft war ich direkt bange, ins Zimmer zu gehen und ihm seine Suppe zu bringen, denn an allem hatte er damals etwas auszusetzen. Da haben Maria und ich uns dann oft nochmal vor seiner Türe rasch ausgelacht, um nachher fröhlich bleiben zu können. -

Und doch war seine Frömmigkeit aufrichtig und echt! Aber sein Wesen erschien mir etwas sonderbar. So z.B. als ich als 5 jähriges Mädelchen mit meiner Mutter von der großen Reise nach Berlin und Thorn zurückkehrte, und er mißbilligend auf meine Hängelocken und auf meinen Putz und vor allem auf die braunen Glaceehandschuhe an meinen Händen sah, den Kopf schüttelte und in meiner Gegenwart meiner Mutter Vorwürfe machte, daß sie mich zur Eitelkeit erzöge! Aber Sonntags, wenn er morgens unter dem Glockenläuten durch seinen Garten ging und die Wege noch einmal fein säuberlich strichig harkte, verglich ich ihn wohl mit einem Bild: "Christ, der Gärtner". Seine Kinder trugen zum Teil sehr aparte biblische Namen. Außer Martha und Maria waren da Johanna, Daniel, Ruth, Johannes, Theophil, Markus und ganz zuletzt 2 x ein kleiner Wilhelm, der nun endlich nach seinem Vater war getauft worden; die 3 Kleinsten starben bald. Einmal hatte er monatelang eine Missionarsfamilie von Sumatra als Gäste in seinem Hause. Die Kinder derselben waren sehr komisch für uns, denn sie konnten die Tänze der Eingeborenen mit Klatschen und Trampeln tanzen. Da ging es sehr laut und interessant im Hause von "Bruder Schürmann" zu, und die gute Tante Trautchen hatte schrecklich viel zu tun und hatte dabei auch noch immer ein kleines Kind auf dem Arm. Im Jahre 1868 kam ich zur Schule. Damit hörte auch für alltags meine Qual, das allabendliche Lockenaufwickeln und das Einschlafenmüssen auf den harten Dingern für gewöhnlich auf, ich bekam einen Kamm in mein Haar und einen Tornister auf den Rücken, auch feste Lederschuhe und ein schottisches Kleidchen. So lernte ich denn in der damals bilderlosen Fibel die ersten Buchstaben, wurde von meiner Lehrerin "das Täubchen" benannt und gewann eine Menge kleiner Gespielinnen. Aber sehr bald kam eine Unterbrechung. Meine Eltern hatten nämlich beschlossen, daß ich mit Mama und Papa die entfernt wohnenden Verwandten, Pastor Drostes in Berlin und Hauptmann Reinholds in Thorn, besuchen dürfe. Als ich eines morgens aus der Schule kam, standen zu meiner freudigsten Überraschung auf unserem Tafelklavier eine Reihe von Schachteln aufgeschichtet, aus denen meine Mutter die entzückendsten Wachspuppen nahm, die allerschönste davon aussuchte und mir eröffnete, diese Puppe solle für mich und die Berliner Reise sein! Nun war ich ganz aus dem Häuschen vor Vergnügen und konnte den Abreisetag kaum erwarten. Auch war es ja die erste große Reise für mich! Ich hatte auch sehr hübsche neue Kleidchen und ein Mäntelchen und einen wippenden Strohhut bekommen, und so ging es denn im Mai der großen Hauptstadt entgegen! Staunend beobachtete ich, wie meine Mutter auf den schwellenden Polstern des Coupees immer auf und ab wippte, wie sie 1000 Herrlichkeiten von eßbaren Dingen ihrer großen Reisetasche entnahm, und wie der Telegraphendraht vor den Fenstern sich hob und senkte und die Landschaft so rasch an uns vorbeiflog. Hinter Magdeburg wurde es dunkler und dunkler, obwohl wir noch Tag hatten, und ein furchtbares Gewitter mit Wolkenbruch kam herauf. Als nun der Donner rollte und die Blitze und Dunkelheit anfingen, uns zu schrecken, zündete meine Mutter eine Kerze an, die sie der Wundertasche entnahm, und wurde dafür von allen Mitreisenden gelobt. Der Zug hielt mitten im freien Feld still, denn durch die strömenden Regenmassen war ein Dammbruch erfolgt und nun mußte zuerst unter den Schienen eine Notbrücke geschlagen werden. Darüber schlief ich schließlich ein.

In Berlin bei meinen Verwandten war alles sehr vornehm, denn mein Onkel Eduard hatte eine Frau aus sehr reichem Hause geheiratet. Ich erinnere mich noch ihres lieben sanften Wesens. Da waren auch 3 Vettern und 1 Bäschen, die sich oft mit mir Landpomeränzchen neckten. Sie spielten mit mir in dem kleinen Vorgarten ihres Hauses in der Linkstraße, in dem wir bunte Bohnen pflanzten und uns nebenan im Kellerladen für einen Dreier oft Schokolade holen durften. Meine Eltern beschlossen, mich von einem berühmten Künstler, der gerade die Kinder des Königs, Prinzessin Charlotte und Prinz Wilhelm, malte, ebenfalls malen zu lassen. Ich weiß noch genau, daß meine Mutter mit mir in den großen Laden Gerson ging und mir dort ein ausgeschnittenes Kleidchen mit hellgrauer Passe und darunter hervorkommendem schottischem Stoff kaufte, in dem ich gemalt werden sollte. Eine Korallenkette wurde mir geschenkt und um das schmale Hälschen gelegt und in die nun wieder täglich neugewickelten Locken ein blaues Band gebunden. So existiert das hübsch ausgefallene Pastellbild heute noch. Während ich dem Maler saß, erzählte mir die gute Tante Auguste eine Geschichte nach der andern, unter denen mir die Geschichte vom "ungehorsamen Gänschen" - "nämlich Hänschen war ein Gänschen" - mir die liebste war und ich sie so gut auswendig lernte, daß ich sie in späteren Jahren unendlich oft den eigenen Kindern und noch später dem Enkeltöchterchen vordeklamieren konnte.

Nachdem wir einige Wochen in Berlin gewesen waren, fuhren wir nach Thorn, und von dieser Reise entsinne ich mich noch der großen Weichselbrücke und des breiten Stromes unter ihr. Wieder gab es da ein paar Vettern, die mit mir der Musik auf dem Hofe, wenn sie dem Onkel ein Ständchen brachte, die Noten hielten. Zurück ging's über Thüringen, und ich durfte die Wartburg mit Luthers Zimmer, in dem ich heimlich auf seinen Stuhl gehoben wurde - "damit du sagen kannst, du hast in Luthers Stuhl gesessen" - sehen und nahe vor Eisenach einem dick und gemütlich aussehenden Herrn (es war Fritz Reuter) ein Kußhändchen zuwerfen. Bald war man dann wieder zu Hause. Man konnte so furchtbar viel den Cousinchen erzählen, und ich mußte auch wieder brav zur Schule wandern und das Versäumte nachholen. In den großen Augustferien durften wir Kinder gewöhnlich mit nach Meinberg in Lippe, wo meine Mutter die Kur gebrauchen mußte. Mein Bruder Fritz war inzwischen auch erschienen. Er war ein bildschönes Kind, und noch sehe ich ihn in seinem kornblumenblauen Kleidchen, das am Saum ein breites Sammetband hatte, seine Gehversuche anstellen, das hellblonde Köpfchen von dichten, natürlichen Locken umrahmt. Einer etwas späteren niedlichen kleinen Episode dieses Kindes entsinne ich mich: er hatte auf der Straße vor der Drehorgel gestanden, und der schlaue Drehorgelmann hatte ihm seinen Zinnteller gegeben, damit das Jüngelchen mit dem Engelsköpfchen an den Türen für ihn sammeln sollte. Erstaunt sahen ihn so die Nachbarn und Verwandten und gaben ihm besonders viel, sorgten aber dafür, daß er dann rasch nach Hause kam.

An die Ferienzeit in Meinberg erinnere ich mich mich mit Wonne! Wie herrlich war da das Herumstreifen mit den Berliner Verwandten-Kindern, im Bosquet der Anlagen, auf dem nahen Försterberg mit den vielen Waldbeeren zwischen den Tannen, das Baden in dem prickelnden Wasser und das Horchen auf die Kurmusik! Meine Mutter, die nachher ganz gelähmt war und im Rollwagen mußte gefahren werden, holte sich dort durch die Schlammbäder fast völlig ihre Gesundheit wieder und ist 11 Sommer, teils mit uns Kindern und einer Wärterin, dort gewesen. In der Schule kam ich gut weiter und brachte das allerbeste Zeugnis mit nach Hause, denn das Lernen wurde mir nicht schwer. Inzwischen nahte 1870 und der Krieg gegen Frankreich. Als er ausbrach, waren wir gerade in Meinberg, und mein Vater beschloß, daß wir einstweilen ruhig dort bleiben sollten, wenigstens bis die Gefahr eines Einmarsches in unsere Rheinprovinz behoben sei. So bekamen denn Carl und ich bei dem Dorfschullehrer Privatstunden, und ich zupfte wie die Großen Charpie, wenn auch nur ein Zigarrenkistchen voll. Als wir wieder nach Hause kamen, ging der Krieg schon bald zu Ende. Noch flatterten uns die mit derben Zeichnungen versehenen Kriegsnachrichten auf großen Zetteln durch die Haustür, wir Kinder lachten über die unschönen Abbildungen der Kaiserin Eugenie, die man über das Knie eines biederen Landwehrmannes gelegt und Prügel bekommend sah, über den schlotternden Napoleon mit seinem breiten, spitzen Schnurrbart und den noch mehr zitternden kleinen Prinzen Lulu. Wir sangen begeistert "die Wacht am Rhein" und "Kaiser Wilhelm saß ganz heiter" und gingen abends mit den Großen bei jeder neuen Siegesnachricht durch die reich illuminierte und mit Fahnen geschmückte Stadt und jubelten mit. Und erst am Sedanstag!! Wie läuteten da immer wieder die frohen Glocken und dröhnten die Böller! Es war ein grenzenloser Jubel! Dann bekamen wir und auch Peltzers einige Leichtverwundete, die den Arm in der Binde trugen, ins Haus, und wir Kinder saßen oft auf ihren Knieen und ließen uns von Gravelotte und den anderen Schlachten erzählen!

Da unsre Fabrik wegen der fehlenden Arbeiter, die mit in den Krieg gezogen waren, still stand, fertigten die Veteranen derselben auf dem weiten zu ihr gehörenden Grundstück mittels eiserner Kästchen mit der Hand Ziegel an, und diese Ziegel fuhr unser dicker Schimmel auf die Straße vor unsre Veranda. Diese wurde niedergerissen und auch ein Teil unsres Gartens tief ausgegraben, und unser neues großes Haus zu bauen begonnen. Uns Kindern war streng verboten, auf den Leitern und Gerüsten des Neubaus herumzuklettern, aber Carl wagte es doch einige Male. Im Januar 1871 fand die Kaiserkrönung in Versailles statt. Tags darauf wurde meine kleine Schwester geboren, und der alte gütige Doktor aus Meinberg war zu uns gekommen, um meiner Mutter beizustehen. Mich hatte meine Cousine Aenny Busch an dem Tage mit in ihr Elternhaus genommen, mich dort auch zu meiner großen Verwunderung, in ein Bett gesteckt und weckte mich nun aus tiefstem Schlaf mit den Worten: "Delechen, du hast ein Schwesterchen gekriegt!" Ich rieb mir voll Erstaunen und Freude die Augen und wollte gleich nach Hause laufen und Mama diese herrliche Neuigkeit verkünden, doch Aenny hielt mich lachend zurück und sagte, ich dürfe erst am andern Tag nach der Schule das kleine Schwesterchen sehen. So schnell bin ich wohl noch nie nach der Schlußstunde nach Hause gerannt, wo das Wickelkind mir auch noch eine Puppe, die ein Haarnetz und ein graugrünes Tragkleid trug, mitgebracht hatte. Und das Schwesterchen war so klein, daß es die Wärterin sogar mal in meine große Puppenwiege zum Spaß legte!

Meine späteren Kinderjahre waren nicht mehr so freudenreich. Meine Mutter war leidend, konnte nicht herumgehen und keinen Kinderlärm vertragen, so begann die Fräuleins- und Mägdeherrschaft über uns älteren Kindern, und gar oft bin ich ohne Frühstück zur Schule gegangen und bekam vom Fräulein nur ein 2 Pfennigstück in die Hand gedrückt, damit ich mir unterwegs ein Zehnuhrsbrötchen kaufen könne. Es ist mir auch unverständlich, weswegen ich niemals reine Milch, sondern nur solche mit Wasser untermischt, wie auch Buschs Kinder, bekam. Die mochte ich garnicht und ließ sie lieber stehen. Kein Wunder, daß ich schließlich so mager und bleich wurde! Es war ein rechter Unverstand! Aber die Busch-Kinder wurden doch groß und stark dabei; denn sie hatten immer hungrige Mägen und aßen mittags ganze Mengen von dem, was in großen Schüsseln auf den Tisch kam. In beiden Häusern war doch ein solider Wohlstand, und bei uns ging es sonst durchaus nicht sparsam zu. Als unser neues Haus fertig war, trug man mein kleines Schwesterchen als erstes Familienglied hinein, und wir andern folgten staunend. Alles so groß und vornehm! Gleich der Flur aus schneeweißem Marmor und alle Decken mit dickem, teils bunt angetönten Stuckmustern. Im Vorflur unter der Decke zwei reizende Engelfiguren, die diese zu tragen schienen. Unten im Haus waren zunächst das Klavierzimmer, zwei große, mit Parkett und außerdem noch Teppichen ausgelegte elegante Wohnzimmer, durch deren hohe Fenster mit den blanken Spiegelscheiben hell das Licht hereinflutete; sie waren durch eine 3 flügelige Tür, die meist offen stand, verbunden und an der Wand des ersten Zimmers hingen über dem Sofa in 2 facher Reihe die neun Ahnenbilder mit inmitten dem Bilde des alten Hans-Lorenz Benzler. Aber damals wußte ich Schäfchen noch nicht, wie die ältesten Ureltern mit Nachnamen hießen und erst ganz später einmal, als ich als junges erwachsenes Mädchen beim Hausputz diese Bilder mit einem weichen Schwämmchen reinigen mußte, entzifferte ich mit meiner Mutter die auf der Rückseite stehenden Namen und erinnerte mich schnell daran, daß mein guter Großvater in Schwanenberg mir erzählt hatte, er habe einen Vetter in Wernigerode am Harz auf einem Schlosse wohnen. Ja, das ist der Kammerdirektor Justus Benzler, der Großvater meines Mannes, gewesen! Damals kannten wir alle noch keinen aus der Familie Benzler! -Neben dem Wohnzimmer lag das kleine, schmale Eßzimmer für den täglichen Gebrauch. Im Anbau schlossen sich die große, 3 fenstrige, mit hellen Mettlacher Platten ausgelegte Küche, die Waschküche und der Wichsraum an. Oben im Haus gab's dann noch das Kinderzimmer, Bügelzimmer, Badestube, der Eltern Schlafzimmer mit Clärchens kleinem Bett darin, meiner Brüder Schlafzimmer, das sogenannte Krankenwohnzimmer und mein entzückendes Schlafkämmerlein, verschiedene Vorratskammern sowie die Schlafstuben für das Fräulein und die Dienstmädchen. Mein Schlafstübchen war durch eine Cölner Firma wie ein Traum ausstaffiert. Im gleichen Muster, wie das der Tapete, die rosa Streifen und dazwischen Rosensträuße und Schmetterlinge aufwies, war der Stoff der zierlich gerafften Satingardinen und meiner Steppdecke; außerdem helle Möbel in poliertem Kirschbaumholz. Kurz, keine meiner Freundinnen hatte auch nur ein annähernd so schönes und mädchenhaftes Schlafgemach. Ich wunderte mich selbst darüber und verstand wohl, daß alle Bewunderer der neuen Einrichtung unsres Hauses es über die Maßen lobten. Längs des Anbaus war ein mit Quadersteinen schön gepflasterter Hof, von zarten Rosen- und Rhododendronbeeten begrenzte dann eine verdeckte Veranda, und dann kam der hübsch mit Blumen und Strauchwerk, auch den alten Obstbäumen und einer jungen Kastanie, angelegte Garten. Inmitten desselben ein zierlicher Springbrunnen, von Grottensteinen eingefaßt und mit schwankenden Gräsern bepflanzt. Auf seinem Wasserstrahl tanzte eine silberne Kugel und im Wasser schwammen kleine Goldfische. Hinter diesem hübschen Garten, in dem man kein Stück mehr von unserm alten biederen Gemüsegarten wiedererkannte, war eine leichte Verzäunung und hinter ihr eine schmale Beerenobst-Anlage, unsre beiden breiten, alten und hohen Kirschbäume und ein Turnreck mit Turnstange und den Haken für die Schaukel, ebenfalls ein Barren. Eine ziemlich hohe Mauer umgrenzte von 3 Seiten das Ganze. Wir tummelten uns tüchtig besonders auf unserm Spielplatz herum, jagten uns auf der Mauer und machten oft ganz verwegene Turnübungen.

Meine Schularbeiten lernte ich an den heißen Sommernachmittagen am liebsten oben in den dichten Zweigen des alten Kirschbaumes, und wohl die meisten französischen Verben und Regeln habe ich mir dort geistig angeeignet. Am liebsten spielte ich mit den Brüdern. Das Schwesterchen hatte immer eine besondere Obhut und wurde fast wie ein Prinzeßchen gehalten und von meiner Mutter grenzenlos verwöhnt und verzogen. Es war ein kräftiges, aber skrofulöses Kind und hatte wunderschönes hellblondes Haar, das wie eine dichte Mähne ihm über den Rücken hinabfiel. An Sonntagnachmittagen nahm mein guter Vater uns drei größten oft mit auf einen weiteren Spaziergang, und das war jedesmal ein Fest für uns. Wenn wir nach Viersen durch die Mordskuhle wanderten, erzählte er solche Schauergeschichten, von früherem Raub und Mord daselbst, daß wir ganz verängstigt waren und uns freuten, wenn das Dörfchen Helenabrunn in weit übersehbarer Ebene vor uns lag. Er kehrte allemal mit uns in einer Wirtschaft ein, ließ uns Kaffee machen, bestellte auch Weck mit Butter und Apfelkraut oder knusprige Bretzelchen und auf dem Heimweg gab's meist auch noch irgendwo herrliche Schinkenbrote. In den Ferien durfte ich einige Male nach Solingen zu meiner Cousine Clara, während ein oder zwei ihrer Geschwister bei uns als Gäste weilten. Da war es immer ganz wundervoll, und wir genossen in dem kinderreichen Pfarrhaus vollständig die goldene Freiheit. Wir machten stundenlange Märsche in das schöne, bergische Land hinein, kehrten manchmal in einem Scherenschleiferkotten ein, durchwateten die Bächlein mit nackten Füßen, was uns eigentlich verboten war, und aßen die hellbraunen Burger Bretzeln, das dortige Heimatsgebäck. Sogar bis Remscheid kamen wir! da war der kluge, sich uns sehr überlegen dünkende Paul, der später als Arzt nach Afrika ging, dann eine sehr temperamentvolle und leidenschaftliche Cousine Clara, mit der ich ein Herz und eine Seele war und schon frühzeitig die seltsamsten Phantasien entwarf, dann die stämmige, helläugige Lydia und hernach noch Albert, der Sonderling, und die 3 Kleinen mit den dunklen Augen: Anna, Ella und Frida.

Meine Cousine Clara sah fast aus wie ein Zigeunerblut mit ihren blitzenden dunklen Augen und dem dunklen Haar. In der Schürmann'schen Familie war überhaupt ein Übermaß an Temperament vorhanden und unsre Onkel und Tanten so wie auch meine Mutter und auch eine ganze Reihe der Basen und Vettern neigten rasch zur Aufgeregtheit, und so entsinne ich mich an manche recht heftige Scene. Andern Tags tat ihnen dann meist die Leidenschaftlichkeit leid, und man versuchte gegenseitig, sich zu versöhnen.

In manchen Sommerferien war ich aber auch, wie schon einmal erzählt, in Meinberg. In der Zeit arbeitete der Bildhauer v. Bandel an seinem Hermannsdenkmal oben auf der Grotenburg, und manchmal unternahmen meine Eltern mit anderen Badegästen zusammen eine Fahrt durch den Teutoburger Wald, und ich durfte mit. Meist machte man an den Berlebecker Quellen, die damals noch ganz natürlich aus tiefem Waldesschatten hervorsprudelten, Rast; dort wurden die Körbe mit Wein und guten kalten Speisen ausgepackt und ein fröhliches Picknick veranstaltet. Dann ging's weiter, die Grotenburg hinauf, wo die massigen Glieder Hermanns des Befreiers noch nicht zum Standbild zusammengefügt waren, sondern noch auf dem Boden des Waldes lagen. Bandel ließ mich in die großen Nasenlöcher des Hauptes tasten und die Helmflügel streicheln. Auf dem Rückweg wurden dann meist noch kurz die nun nach Detmold verzogenen Berliner und Thorner Verwandten begrüßt. Mein Onkel Reinhold war damals durch die Strapazen des Feldzugs schon ganz gelähmt und in Gehirnerweichung gefallen und bot ein trauriges Bild. Zu den beiden Jungens aus 1. Ehe der Tante Emma waren nun auch noch 2 Mädchen gekommen, Emma und Anna. Die Drostes-Kinder aus Berlin hatten ihre Eltern schon früh verloren und standen nun unter der Obhut der Großtante Adolfine, einer sehr energischen, klugen und fast wie eine alte Italienerin aussehende Dame. Sie war vorher an der Detmolder Töchterschule Lehrerin gewesen und besaß, ebenso wie der Onkel Eduard, ein hervorragendes Zeichentalent.

Es war im August 1875, also in meinem 14. Jahr, daß ich wiederum, diesmal mit meinen großen Busch-Vettern zusammen, die schon in Düsseldorf die Prima besuchten, ins Lipperländchen zur Einweihung des Hermannsdenkmals reisen durfte. Natürlich war Mama damals in Meinberg, und ich freute mich schon mächtig darauf, nun bald unsern guten alten Kaiser Wilhelm I. zu sehen, der mit dem Kronprinzen und seinen Generälen zu den Festtagen kommen würde. Es herrschte eine fieberhafte Tätigkeit in Meinberg und Umgebung, ganz besonders aber in Detmold. Überall bekränzte Ehrenbogen und Gehänge aus Laubgewinde. In Meinberg waren damals die Maler Kraus und Spangenberg anwesend und machten künstlerische Veranstaltungen, indem sie weißgekleidete junge Mädchen, die mit ihren gepuderten Gesichtern und Haaren und den mit Gips naß gesteiften langen Mullgewändern wie Marmorstatuen aussahen, auf hohe Postamente aufstellten und ihnen die ruhigen Stellungen von griechischen Göttinnen gaben. Voll Bewunderung sah ich den Veranstaltungen zu. Und dann die grenzenlose Begeisterung, als die Wagen des Kaisers und der andern hohen Herrschaften heranrollten! Das Fahnenschwenken und brausende Hurrarufen! mich hatte ein Taumel erfaßt, ich raffte von den blühenden Beeten einen Strauß Blumen zusammen, trat, als die Ehrenjungfrau fast mit ihrem Gedicht fertig war, unerlaubt, aber mit glühendem Herzen an des Kaisers Wagen, legte meinen kunstlosen Strauß auf sein Knie, bekam ein gütiges Kopfnicken und eilte davon. Nachher schalt meine Mutter, daß ich so dreist gewesen war und außerdem mir mein neues weißes Mullkleid mit den schönen, hellblau unterlegten Spitzeneinsätzen ganz durch Grasflecken verdorben hatte. Aber schön war's doch gewesen! Überhaupt zog mir meine Unbedachtsamkeit manchmal Strafe zu! So einmal, als ich endlich, endlich auf einer Wiese in Meinberg mein 1. vierblättriges Kleeblatt gefunden hatte und es nun sehr beglückt meiner Mutter bringen wollte. Ich lief hastig auf ihr Zimmer und stieß mit den Worten: "0, nun habe ich Glück" so heftig die Türe auf, daß ein hinter derselben stehendes Tischchen mit einer Wasserflasche darauf umstürzte und ich, schwapp, eine Ohrfeige bekam! Damit war denn auch mein Glaube an ein glückbringendes Kleeblatt gar schändlich zerbrochen! Dieses passierte alles in meinem letzten Schuljahr, und ich ging nun auch schon zur Konfirmandenstunde.

Allmählich wurde ich immer ernsthafter, besonders durch den Unterricht des verehrten Predigers; ich gehörte auch bei ihm zu den besten Schülerinnen und lernte mit großem Eifer und mit frommem Herzen. Mein Konfirmationsgelübde legte ich mit großer Aufrichtigkeit und sehr bewegt am 8. April 1878 in der evangelischen Kirche in M. Gladbach ab. Mein Vater, der auch in feierlicher Stimmung war, führte mich, die ich zum ersten Mal ein langes schwarzes Kleid trug, an seinem Arm nach hause, und es paßte eigentlich garnicht zu dem Tag, daß uns ein Arbeiter nachrief: "Kiek ens den Heer, wat hat de för en junge Fru!" Zu Hause war ein Tisch voll herrlichster Blumen, die Verwandte und Bekannte geschickt hatten, viele schöne Bücher und Geschenke und viele Glückwunschbriefe für mich bereit. Meine prächtigen goldenen Schmucksachen und die entzückende Uhr hatte ich schon Weihnachten im voraus bekommen, die Uhr, das Hauptgeschenk, aber zuerst garnicht beachtet, weil das Kästchen unter einem reizenden kleinen Püppchen versteckt lag. So halb war ich damals doch noch ein rechter Kindskopf, trotz der Schulweisheit! -

Kurz nach dieser Zeit sollte ich, wie damals üblich, in ein Mädchenpensionat nach Bremen kommen, damit dort meine Bildung durch Stunden in Literatur, Kunstgeschichte, Zeichnen und Malen, Fremdsprachen und Musik noch gefördert würde. Das Pensionat der Frau Pastorin Stockmeyer in Bremen, dem seit 1/2 Jahr meine Cousine Clara Busch nebst ihrer Freundin Lieschen Schürenberg anvertraut waren, sollte auch mich aufnehmen. Mit Herzklopfen stand ich, von meinen Eltern begleitet, der würdigen Dame gegenüber und horchte etwas beklommen auf ihre französische Unterhaltung mit ihren Zöglingen. Man sprach abwechselnd einen Tag französisch oder englisch, und nur Sonntags war die deutsche Sprache gestattet. Ich gewöhnte mich bald ein, machte aber noch manchen Fehler. Erstens, indem ich bei der Vorstellung vor meinen Musik-, resp. Gesanglehrer ihm keine vorschriftsmäßige Verbeugung machte, sondern ihm nur lachend zunickte, zweitens, daß ich auf die Frage meiner Vorsteherin, die uns in ein Abendkonzert begleiten wollte: "What will you put on to night?" rasch und lustig antwortete: "o, my night-dress!" Aber so allmählich wurde ich doch erwachsener, ja, je länger, je mehr fast zu ernsthaft.

Mit meiner Schlafgenossin, Magdalene Holzrichter aus Bremen, verband mich bald eine innige Freundschaft. Wir teilten Freud und Leid miteinander und schwärmten, wie nur junge Mädchen zu schwärmen vermögen, d.h. hauptsächlich ich, denn Magdalene war im Grunde eine sehr nüchterne Natur. Frau Pastorin sagte einmal; "Delchen muß immer im Leben jemand haben, der sie lieb hat." So war es tatsächlich, und irgendwen liebzuhaben war mir gerade so sehr ein Bedürfnis. Ich mußte sehr fleißig und sehr viel lernen und tat das auch mit großem Eifer. Ganz besonders gern hatte ich die Gesangstunden. Eigentlich bekam ich sie für mein Alter entschieden zu früh, aber ich hatte eine hübsche hohe Kinderstimme, erreichte mit Leichtigkeit das hohe C und konnte eigentlich jedes Lied sofort nach einmaligem Hören. Ich übte Mendelsohns, Beethovens und Tauberts Lieder und hatte unendlich viel Freude daran. Auch die Zeichen- und Malstunden waren fein, und ich machte darin rasch gute Fortschritte. Außerdem traten Magdalene und ich schon als Helferinnen im Kindergottesdienst der Friedenskirche ein und nahmen es sehr ernst damit. Wir hatten die Vorbereitung dazu bei Herrn Pastor Funke oder Jaulek und selbst wohl den besten Gewinn für unser Herz. Außer meiner Cousine Clara, die so recht etwas Mütterliches zu mir hatte und auch fast einen Kopf größer und überhaupt viel kräftiger als ich war, war da noch ein Gladbacher Mädchen, an das ich mich herzlich anschloß: Lieschen Schürenberg. Mit Clara und Lieschen konnte man doch oft von der Heimat sprechen und sich auf ihre Eltern mit ihnen freuen, wenn sie auch freilich nur kamen, um sie wieder abzuholen, denn die Mädels waren ein Jahr früher als ich zur Frau Pastorin in Pension (gekommen) und auch älter als ich, so daß sie auch schon eher daheim der Freundschaft und Verwandtschaft als erwachsen präsentiert werden konnten.

Im Monat Juli durften wir uns der Ferienreise unserer Vorsteherin und ihrer wenig geliebten, altjüngferlichen Schwester, Frl. Bringelmann, anschließen, und reisten zu Vieren, Clara, Lieschen, Magdalene und ich, mit in den Harz. Wenn unser Essen, das aus einem Speisehaus gebracht wurde, für uns 6 Menschen auch nur aus drei Portionen bestand, auch manchmal knapp war, so tat uns doch die frische Bergluft von Andreasberg und Umgegend gut, und wir waren auch viel freier dort als in Bremen, durften manchmal allein ausgehen und dergl., wobei Lieschen und ich allemal unsre Skizzenbücher mitnahmen und abzeichneten, was uns nur gefiel. Vier Wochen blieben wir dort und machten manchen schönen Ausflug. Sieber, das Forsthaus Schluft mit seinen leckeren Eierkuchen und Heidelbeeren und mit seinem Herumplantschen im Waldbächlein, der Rehberger Graben, der Oderteich und schließlich der Brocken waren doch herrliche Unterbrechungen, an die wir später bei unsrer strengen Zeiteinteilung und Arbeit gerne zurückdachten. Als Clara und Lieschen uns verlassen hatten, kamen noch einige andere Gefährtinnen für uns ins Haus, doch Magdalene und ich hatten an einander genug und schlossen uns den andern wenig an. Der Herbst kam und auch der Winter. Die Ostwinde und das rauhe Klima setzten mir arg zu, auch war ich immer müde und eigentlich nie richtig satt. Ich mochte nicht wie die Neuen auf jedem nur möglichen Besorgungsweg in eine Conditorei laufen und mich dort schadlos halten, denn es war verboten worden. Wie manchmal bin ich in die Küche im Keller gelaufen, um die Köchin um ein Stück Brot zu bitten, doch die durfte nichts herausrücken. Als ich nun einen bösen Husten bekam, der garnicht wegging, und schließlich auch Blut aushustete, machten meine Gefährtinnen unsre Vorsteherin darauf aufmerksam. Ich verehrte dieselbe grenzenlos und verstand nicht, daß sie die Müdigkeit als ein Sichgehenlassen meinerseits ansah und ganz ernsthaft mit mir schalt, daß ich Mama geschrieben hatte, ich fühlte mich besser. Mama, die von nichts eine Ahnung hatte, schrieb darauf an Frau Pastorin um Auskunft. Das hatte dann den Erfolg, daß ein alter Arzt ins Haus kam, mich untersuchte, den Kopf schüttelte und dann zu Frau Pastorin schließlich sagte, woher ich Blut aushuste, das wisse er nicht! Aber meine Freundin Magdalene sollte mir nur Brust und Rücken oben rechts täglich mit Jod einreiben, er könne wirklich nicht sagen, ob das Blut aus dem Hals oder dem Magen käme!

Offenbar hat der alte Herr damit die Unwahrheit gesagt, um Frau Pastorin, die sich übrigens keine Sorge machte, da sie selbst eine Eisennatur hatte, völlig zu beruhigen. Ruhig durfte ich alle meine wissenschaftlichen Stunden und auch Gesang- und Tanzunterricht, sowie das Helfen im Kindergottesdienst, weiter betreiben. Aber schließlich machten auch mein Gesanglehrer und die zierliche Balettmeisterin, die uns Mädchen Tanzstunde gab, Frau Pastorin auf das frische Blut in meinen Taschentüchern aufmerksam und nicht lange danach wurde mir auch schon beim Zubettgehen so elend, daß ich unter Röcheln einen heftigen Blutsturz bekam und Frau Pastorin in ihrem Wohnzimmer, das unter Magdalenens und meinem Schlafzimmer sich befand, das sonderbare Geräusch und Magdalenes Rufen nach ihr hörte und heraufkam. Ich war völlig erschöpft, konnte und durfte auch am ändern Tag nicht aufstehen. Nur ein einziges gesprochenes Wort von mir ließ den roten Lebenssaft neu aufquellen. Da hat denn Frau Pastorin und der Arzt sehr die Angst bekommen, und es wurde meiner Mutter telegraphiert, ich sei krank, sie solle mich abholen. Ich bekam einstweilen nichts davon zu wissen. Aber Mutter war sofort abgereist, und da sie noch schlecht gehen konnte, hatte sie Clara Busch zur Hilfe mitgenommen, durfte mich aber die ersten 3 Tage ihres Dortseins überhaupt nicht sehen und war nun ganz in Verzweiflung in Hillmanns Hotel. Sie bestellte gleich einen namhaft tüchtigen Arzt, den Dr. Struwe, und kam, sobald er es gestattete, ganz kurz zu mir, nachdem man ihr Kommen mir gesagt hatte. Nun wurde ich auf das Allerbeste gepflegt und mit erdenklich viel Gutem versorgt und hatte die Aussicht, ganz bald wieder mit Mama nach Hause reisen zu dürfen. Inzwischen war es März geworden und das Wetter linder. Nachdem 3 Wochen, vergangen waren, fuhr ich mit Mama und Clara in einem geschlossenen Wagen zum Bahnhof und wurde in den Zug gehoben. In Düsseldorf kam Papa uns entgegen und war beim Umsteigen behilflich, er hatte schon die amtliche Erlaubnis nachgeholt, daß die Droschke über den Bahnsteig bis an unser Abteil im Zuge fahren durfte, was in damaliger Zeit noch möglich war. Bald war man zu Hause, aber dort wurde ich erst recht krank, denn ich hatte wohl zu viel Milch und Gutes eingenötigt bekommen und mir dadurch auch noch ein gastrisches Fieber zugezogen. Ich mußte wieder ins Bett, und das Fieber stieg bis 41. Man hatte mich schon aufgegeben. Fast immer schlief ich und war zu schwach, den Kopf aufzurichten. Einmal erwachte ich von einem heftigen Schluchzen. Die Eltern standen weinend am Fußende meines Bettes und neben mir sah ich meinen guten Pastor, der mich konfirmiert hatte, Sterbegebete sprechend. Ich hörte nur noch: "Herr, tröste die armen Eltern." - da schlief ich schon wieder.

Und da hatte ich einen ganz wunderbaren Traum. Ich befand mich darin auf dem Söller (Boden) unseres Hauses, und es war da sehr dunkel. Und im Vorwärtsschreiten saß da solch schreckliches Tier mit feurigen Augen in einer Ecke, vor dem ich mich fürchtete. Aber ein heller Schein war auch plötzlich da, und unser Heiland stand bei mir und sagte, ich solle mich nicht fürchten, denn nun würde er helfen, und alles sei wieder gut. Als ich richtig wach wurde, hatte ich die felsenfeste Überzeugung, daß ich nun gesund würde. Nicht, daß ich die geringste Angst vor dem Sterben gehabt hätte, nein, das Eingehen in die Ewigkeit und zu Gott war mir längst ein seliges Ziel. So aber war es doch auch schön, so ganz allmählich die Kräfte zurückkommen zu fühlen. Am schlimmsten war das Durchliegen gewesen, das aber endlich auch durch mit Hülsen gefüllte Linnenringe behoben wurde. Wochen vergingen noch, ehe ich aufstehen durfte. Ich bekam oft Besuch von den Verwandten und durfte auch manches Buch wieder lesen. Damals fesselte mich sehr ein englisches Buch: "Stepping heavenword" und die "Familie Cotta". Meine Gladbacher Tanten und die Eltern waren unendlich gut zu mir. Tante Ernestine Busch brachte mir einmal ein schönes, mit zarten Blumen bemaltes Spruchblatt mit, das die Worte trug: "Erst will er mich vollenden, dann wird er's selig enden." Das lag während meiner Krankheit immer auf meiner Bettdecke und ebenfalls die Briefe, die aus Bremen kamen von Frau Pastorin und Magdalene. Jener Spruch hat sich mir tief ins Gedächtnis gegraben, und noch in mancher späteren Stunde, in der ich dem Tode nahe schien und doch dann sich leise die Kräfte wieder hoben, erinnerte ich mich an ihn und ich wußte, daß ich noch an mir und für andere weiter zu tun haben sollte. -

Nun wurde es auch draußen Frühling. Das Blühen der Obstbäume in unserem hübschen Gärtchen sah ich noch oben vom Fenster meines Krankenzimmers und nicht lange dann, so wurde ich hinunter in den Garten getragen, wo ich im Rollwagen meiner Mutter, den sie nun schon längere Zeit nicht mehr benutzen brauchte, bis unter die Kastanie gefahren wurde und mir Blumen und Grün in ganz neuer Schönheit erschienen. Mein langes dickes Haar war fast ganz in der Fieberzeit ausgefallen und der Rest desselben wurde später kurz abgeschnitten; gehen konnte ich kaum und nur mit Unterstützung, doch es wurde von Tag zu Tag besser, und sobald es möglich war, fuhr meine Mutter auf unsres alten Arztes Rat mit mir für einige Wochen nach Honnef am Rhein, wo die milde Luft meinen Lungen gut tun sollte. Ich bin damals ein zartes, noch sehr kindlich aussehendes Ding mit Hängezöpfen gewesen, denn der gute Doktor dort, ein würdiger alter Herr, sagte zu mir, als er einmal nach mir schaute und ich noch zu Bett liegen mußte: "Meine liebe Kleine", und dann am andern Tag beim Wiederkommen ganz verlegen, als ich im langen Kleid vor ihm stand: "Mein gnädiges Fräulein", was mir großen Spaß machte.

Dort in Honnef passierte mir eine recht unangenehme Geschichte, die für mich bei meiner großen Harmlosigkeit und Unerfahrenheit vielleicht schlimm hätte auslaufen können. Unter den Gästen des Hauses war nämlich ein erst wenige Jahre verheiratetes Ehepaar. Der Mann schwindsüchtig. Wie es nun kam, daß sich dieser Mann in mich junges Ding verliebte, das weiß ich nicht; ich nahm seine Aufmerksamkeiten nur als freundliche Teilnahme, ebenso wie meine Mutter. Aber bald stellte er mir sichtlich nach. Ging ich ohne meine Mutter mal in den großen Garten, so tauchte er plötzlich irgendwie aus einem Nebenweg oder in einer Laube auf und versuchte, mir Liebeserklärungen zu machen und schreckte mich damit sehr. Die andern Gäste, zu denen ich floh, merkten das eher als meine Mutter und wollten dieselbe schon auf meine Angst aufmerksam machen. Aber da verreiste Mutter plötzlich, um mein Schwesterchen Clärchen nach Kreuznach zu bringen, wo dasselbe eine Solkur durchmachen sollte. Sie schickte sofort zu ihrer Vertretung während ihrer kurzen Abwesenheit eine meiner erwachsenen Cousinen nach Honnef, aber ebenso sofort, hatte der Herr sich diese Gelegenheit zu Nutzen zu machen gewußt und verfolgte mich im Garten, fiel vor mir sehr theatralisch nieder, beteuerte mir seine große Liebe und sagte, daß er mit seiner Frau sehr unglücklich sei und sich das Leben nehmen wollte, wenn ich nicht gut zu ihm sein könne, denn er dächte Tag und Nacht nur an mich und wollte mit mir entfliehen. Ich war in größter Bestürzung, stieß ihn mit aller Kraft zurück und rannte atemlos auf mein Zimmer, ihn hinter mir her kommen hörend und rasch die Tür verschließend. Da saß ich nun keuchend und weinte und fühlte mich wie mit Schimpf übergossen. Meine Cousine war gerade nicht da. Der lästige Unverschämte rüttelte außen an der Tür, da nahten Schritte, und ich hörte die Stimme der Gesellschafterin der alten lieben Dame aus Barmen und merkte, daß er sich entfernte. Die Gesellschafterin pochte an, schluchzend öffnete ich ihr und sie nahm mich, die ich ganz fassungslos, mit auf das Zimmer ihrer lieben Dame, wo ich dann alles erzählte und bei ihnen bleiben durfte, bis meine Cousine aus der Stadt zurückkam. Mutter kehrte bald zurück, und bis dahin stand ich unter dem Schutz des ganzen Hauses und jener Herr blieb auf seinem Zimmer und kam nicht einmal mehr zu den Mahlzeiten. Mutter war natürlich höchst aufgeregt, als sie alles erfuhr, und beschloß, daß wir Honnef bald verlassen sollten, um mich vor weiteren Nachstellungen zu schützen. Mein Vater holte uns ab und wollte uns nun bis zum Herbst nach Meinberg bringen und von dort sollte ich noch längere Zeit nach Davos in der Schweiz, um wieder ganz gesund zu werden. Nach Meinberg gab es damals noch keine direkte Bahnverbindung. Man konnte bis Paderborn die Eisenbahn benutzen, hatte sich dort einen Wägen bestellt und fuhr nun über Schlangen-Kohlstädt die entzückende Wäldstrecke durch den hohen Teutoburger Wald, über die große Egge, an den Externsteinen vorbei und durch das Landstädchen Horn nach Meinberg. Als wir nun in Paderborn ankamen und in unsern schon bereitstehenden Wagen steigen wollten, bemerkten wir zu unserm Schrecken jenen Honnefer Herrn, der auch einen Wagen nahm und uns nach Meinberg folgte. Meine Eltern waren sehr empört und machten gleich nach unserer Ankunft unserm Doktor, der uns ja längst ein treuer Freund war, Mitteilung von der Geschichte. Der Doktor nahm den neuen Patienten sehr ernst ins Gebet, und das hatte den Erfolg, daß er nach 2 Tagen wieder abfuhr und nun in Lippspringe sein Heil suchte. -

Aus der Meinberger Zeit kann ich mich nicht an Besonderes erinnern, ich weiß nur, wie sehr ich es genoß, dort mit den Eltern unter den hohen Bäumen der alten Allee zu sitzen, mit meinem herzenesguten Papa kleinere Spazierwege ab und zu unternehmen zu können. Wenn es regnete, hatte ich auf Verordnung unseres "Onkel Doktors" die hohen breiten Treppen des Kurhauses zum Stern 10 Mal herauf- und herunter zu steigen, was wohl einem tüchtigen Bergspaziergang ähnlich kam, denn das Kurhaus war sehr weitläufig angelegt. Ende September kehrten wir für 14 Tage nach Hause zurück und alles Nötige für den Winteraufenthalt in Davos wurde besorgt. Meine Eltern hatten sich sehr nach Anschluß für mich an eine Dame während des Winters in Davos umgehört und zufällig durch Frau Pastorin Stockmeyer erfahren, daß eine ihrer ersten Pensionärinnen, die 10 Jahre früher als ich bei ihr gewesen war, dorthin wolle. Brieflich wurde als Treffpunkt Frankfurt a/M. verabredet, und dort lernten wir dann auch Malie Meyer kennen. Am andern Tag ging es weiter bis Constanz. Dort nahmen wir alle Sehenswürdigkeiten in Augenschein, waren in verschiedenen Kirchen und im Konziliumssaal, dessen Wände mit Bildern aus der Hußtragödie ausgestattet waren, die mich tief ergriffen. -

An Malie schloß ich mich zuerst nur wenig an, der Altersunterschied von 26 zu 16 Jahren ist in dieser Lebenszeit doch ein ziemlich großer, und sie erschien mir mehr wie eine Erzieherin als wie eine zukünftige Freundin. Sie war ein hageres, großes Mädchen und trug ihr Haar in dunkelblonden Ringellocken, die auf ihre Schultern herabfielen. Sie war sehr religiös und von strenger Auffassung, und erst allmählich lernte ich ihr gutes Herz und ihre geistige Überlegenheit schätzen. Als wir von Constanz weiterfuhren, war ich müde vom Schauen und schlief bald ein. Als ich erwachte, war mondheller Abend; ich preßte mein Gesicht an die Scheiben unseres Eisenbahnabteils, schaute hinaus und war fast erschrocken von der überwältigenden Schönheit des Anblicks, der sich mir bot. Wir waren nahe an Ragatz und zum 1. Mal sah ich die Alpen, deren schneebedeckte Spitzen in dem hellen Mondlicht wunderbar glänzten. Fast dachte ich, es seien Wolken, keine Berge, doch Papa erklärte mir nun alles, denn er war auf seinen Geschäftsreisen schon oft in der Schweiz gewesen. Spät abends langten wir in Landquart an, genossen noch ein gutes, warmes Abendessen mit rotem Landwein und schliefen herrlich dem neuen Morgen entgegen. Nach dem Frühstück nahm Papa Malie und mich mit hinaus, während Mama unsre Reisesachen wieder zusammenpackte. Da kamen wir an das breite, mit großen Steinblöcken durchschichtete Rheinbett, wußten nicht, was das sei, und fragten einen kleinen Jungen um Auskunft. Der erzählte uns, dieses schmale Wässerchen, das zwischen den riesigen Steinen dahinfloß, heiße der Rhein und unten in Deutschland sei das ein so großer Strom, daß das Auge nicht vermöchte, vom einen Ufer zum Andern zu schauen! Natürlich ergötzte mich diese Auffassung! Wie oft waren wir Kinder doch schon mit den Eltern in Köln gewesen! Da, schon damals, als ich etwa 4 Jahre zählte, und der Dom noch ein großes Gerüst um seine unfertigen Türme trug und ganz eng von winzigen, spitzgiebeligen Häusern und engen Straßen und Gäßchen umringt war, die in späterer Zeit niedergelegt worden sind. Aber ich freute mich sehr, meinen Landsmann Rhein nun auch in seinen Anfängen kennen zu lernen und trug den kleinen Wellen Grüße an die Heimat auf.

Schon frühzeitig nahmen wir in Gesellschaft von vielen Fremden, unter denen sich mehrere Ausländer befanden, unser Mittagsmahl ein; denn draußen wurden schon eine Reihe von Postkutschen und Beilagen angeschirrt, denn es sollte bald aufgebrochen werden, weil wir 8 Stunden bis Davos würden fahren müssen. Mit Erstaunen bemerkte ich die Schneeschaufeln und allerlei Geräte oben auf dem Wägen und ließ mir erzählen, daß schon Mitte Oktober so starke Schneefälle überraschend eintreten könnten, daß man die Straßen freischaufeln müsse. Doch es ging immerzu durch herbstlich schönes Land, und ich hatte genug zu schauen und zu bewundern. Die weiten Matten und hohen Alpenketten, die steinbeschwerten Dächer über den weißen Häusern, schlanke Kirchtürme und riesenhohe Tannen. Es war dunkel, als wir anlangten und beim Hotel "Schweizerhof" abstiegen. Da war schon ein reger Fremdenverkehr, und da meine Eltern 2 miteinander verbundene Zimmer für Malie und mich im Voraus bestellt hatten und solche nicht mehr frei waren, wurde für uns nach einigem Überlegen der große Damensalon mit den roten Pluschmöbeln zu 2 Schlafzimmern umgestaltet und in der Mitte durch 2 aneinander gestellte spanische Wände getrennt, so daß wir wohl miteinander sprechen, aber uns nicht sehen konnten. Er lag zu ebener Erde und nach Süden hin, hatte 3 helle Fenster und eine Tür zu der breiten Galerie, die in jedem Stockwerk um das ganze im Schweizerhausstil gebaute Hotel ging.

Voll Entzücken sahen wir am andern Tag auf die herrliche Aussicht vor uns. Das Haus fiel zur Gartenseite hin steil ab, so daß wir das Gefühl hatten, nicht im Parterre, sondern einem höheren Stockwerk zu sein, auch war der Fernblick noch unbehindert von den erst später entstehenden andern großen Fremdenhäusern, über köstlich grüne Wiesen schweifte der Blick weit hinaus, bis er am fernen Ziegenhorn, das in den Himmel ragte, haften blieb. Ein paar Tage später fiel schon dicker Schnee und hüllte die ganze Landschaft in das blendend weiße Kleid ein, das sie den ganzen Winter tragen sollte. Da fuhren denn auch meine Eltern, die einige Tage geblieben waren, durch eine herrliche Winterlandschaft nach Landquart zurück und von dort zur Heimat.

Zuerst war mir natürlich alles sehr fremd und ungewohnt. Aber ich war jung und in aufblühender Kraft und Lebensfreude und überwand so bald mein Heimweh. Jeden Morgen trat Dr. Unger schon früh in mein Zimmer: "Nun, Fräuleinchen, noch nicht draußen? Schnell, schnell hinaus!" Zuerst durfte ich nur wenig steigen, denn ich gehörte noch auf die schlimmere Hälfte seiner Patienten; als ich aber gut zunahm und meine Kräfte wuchsen, verlangte der gute Doktor, daß ich jeden Morgen auf die 1000 Fuß höher gelegene Schatzalp stieg und erst zum Mittagessen ins Zimmer zurückkehrte. Heutzutage wäre solch eine Wanderung wohl als Unsinn verschrieen, aber mir bekam diese Kur ganz ausgezeichnet, denn, als ich nach 6 Monaten Davos verließ, war ich ein blühend aussehendes Mädel geworden und hatte 28 lb zugenommen.

Der Winter ging nun ganz vergnüglich dahin. An Malie und ihre Bekannten aus Bremen hatte ich mich sehr angeschlossen, wir rodelten zusammen und erklommen auch die steilen Wege zur Schatzalp gemeinsam, saßen dort oben vor der Milchbude in der heißen Sonne, tranken unsre Milch und genossen die mitgebrachten Butter- und Schinkenbrote und hatten immer allerlei Kurzweil. Abends saß man entweder lesend auf seinem eigenen Zimmer oder traf sich mit näheren Bekannten noch in einem der Gesellschaftszimmer, wo "Tom Brown's schooldays" abwechselnd auf Englisch vorgelesen wurde. In meinen einsamen Stunden dagegen führte ich meinen von Malie unterstützten Plan, die Bibel einmal ganz durchzulesen und mit eigenen Anmerkungen zu versehen, treulich durch. An verschiedenen Wochentagen ging ich mit einer jungen Schottin des nachmittags spazieren und wir tauschten dabei abwechselnd unsre Sprachen aus, was eine Jede sehr förderte. Als ich nach einer Reihe von Jahren als junge Frau mit meinem 3 jährigen Lisbetschen nochmal einen Winter in Davos verleben mußte, weil ich eine recht schwere Rippenfellentzündung durchgemacht hatte, war jene Schottin noch als Sprachlehrerin dort. Im Frühjahr kehrte ich in Begleitung von Malie nach Gladbach zurück und hatte mich auf der Heimreise nicht genug wundern können, wie winzig mir die Rheinberge erschienen. Die Eltern, Geschwister und fast alle Verwandten holten mich schon an der Bahn ab, und alle wunderten sich, wieviel besser ich nun aussah, und es war ein Lärmen und Lachen von den vielen Cousinen und Vettern um mich herum, wie ich es lange nicht mehr gehört hatte.

Malie durfte noch einige Wochen bei mir bleiben und kehrte dann nach Bremen zurück, wo sie ihr Heim bei einer liebenswürdigen alten Dame hatte, da ihre Eltern schon lange tot waren. Wir hatten uns doch sehr innig in dem Davoser Winter an einander angeschlossen und haben bis zu ihrem frühen Tode in regem brieflichem Gedankenaustausch gestanden. Ich erwähnte schon, daß Malie eine der 1. Pensionärinnen von Frau Pastorin Stockmeyer gewesen war. Sie hatte mir in Davos gar oft aus ihrer Pensionszeit und von ihrer damaligen liebsten Freundin Luise Wessel aus Lage in Lippe erzählt. Ich greife meinen Erinnerungen vor, wenn ich im Anschluß daran berichte, daß Malie mir später noch oft aus dem Lageschen Pfarrhaus und von Luise schrieb, daß Malie in noch späterer Zeit im gleichen Jahre Patin meines Sohnes Otto und von Luise Meyers, geb. Wessel, jüngster Tochter Hannah wurde, daß eben diese Luise Meyer mir viele Jahrzehnte später eine so treue Freundin und Kränzchenschwester in Detmold wurde! So sind die Wege oft wunderbar! -

Ehe ich mit Mali in die rheinische Heimat fuhr, hatten wir noch zusammen 6 Wochen in einer englischen Familie in Corseaux, oberhalb von Vevey, am herrlichen Genfersee, verlebt. Das war eine wunderschöne Zeit, in der sich die Augen nicht satt trinken konnten an der Schönheit ringsum, und in der auch Geist und Seele gar tiefe Anregungen durch den feinen, wirklich vorbildlichen alten Mister Taylor erfuhren.

Unser Arzt in Davos befand es für richtig, daß seine Patienten nicht sofort aus der Höhenlage der Schweiz, speziell Graubündens, in die deutsche Tiefebene zurückkehrten, sondern noch ein paar Wochen eine Übergangsstation wählten. Und da Malie schon früher einmal, nach einem in Cannes verbrachten Winter, lange Zeit bei Taylors gewesen war und sich bei ihnen ganz unendlich wohl gefühlt hatte, so schlug sie noch einige Wochen in Corseaux vor, und meine Eltern gaben dazu ihre Einwilligung. Schon die Reise dorthin über Bern und am Genfersee entlang war entzückend. Taylors bewohnten ein weitläufiges Landhaus. Ich bekam in der oberen Etage 2 hübsche Zimmer, das eine diente als Tagesraum und hatte ein Fenster zum See und den Savoyer-Alpen hinaus, nebenan war das kleinere Schlafgemach. Malie hatte auf demselben Flur wie ich ihre Zimmer. Stundenlang konnte ich am Fenster stehen und mich in die nie geahnte, unendliche Schönheit, die sich vor meinen Blicken auftat, versenken. Sah ich hinunter, so waren da zuerst die vielen Blütenbäume in ihrer weißen Fülle, die in den hellgrünen, mit Narzissen und Himmelsschlüsselchen durohwucherten Wiesen aufragten, dahinter das freundliche Vevey und dann der große, in der Sonne schimmernde, blaue See. Hinter ihm die Kette der schneebedeckten Savoyer-Alpen, in denen die Waldenser gewohnt, gestritten und gelitten hatten. Weiterhin nach rechts das Rhône-Tal mit den hohen Schneeriesen, ihnen am See vorgelagert das liebliche Chillon, dahinter Montreux. Es war wirklich eine Pracht, die ich nicht schön genug schildern kann. In meinem Zimmerchen brannten und knisterten im offenen Kamin die großen Holzscheite und machten es überaus traulich. Im Hause wurde nur französisch und englisch gesprochen und verstanden. Madame war französische Schweizerin, Monsieur oder vielmehr Mister Taylor Engländer, Generalagent der britischen Bibelgesellschaft. Sie dunkeläugig und sehr lebhaft, zur Korpulenz neigend, er mit silberweißem Haar und einem gewinnenden gütigen Ausdruck in den Zügen. Es befanden sich noch einige junge englische Schüler und 2 erwachsene eigene Kinder im Hause. Einen besonderen Reiz boten mir persönlich die wandgroßen, schönen Ölgemälde, die alle Zimmer des unteren Stockwerks zierten und die sämtlich von der Mutter von Mr. Taylor gemalt waren. Sie stellten Scenen aus dem englischen Volks- und Landleben vor und die Figuren, besonders die weiblichen, waren von großer Grazie in ihren Bewegungen.

Die nach englischem Muster täglich von Mr. Taylor abgehaltenen Morgen- und Abendandachten, bei denen auch die Dienstboten zugegen waren, dünkten mich zuerst ziemlich befremdlich, wie auch die abends in so flottem Tempo gesungenen französischen hymnes. Es gefiel Mr. Taylor sehr, als ich nach dem Mittagessen, unserm Heimatbrauch folgend, "Gesegnete Mahlzeit" sagte, er fand das sehr nett und sinnig und versuchte fortan, mir diesen Wunsch zurückzugeben, brachte aber nur: "Gesickete Mahlzeit" fertig. Ich bin sehr gern in Corseaux gewesen! Morgens schlenderte ich meist auf den engen steilen Wegen der Weinberge herum und setzte mich dann, mein Skizzenbuch aufschlagend, auf eine niedrige Mauer. Nicht lange, so fanden sich glutäugige, schwarzhaarige Kinder um mich herum ein und sahen meinem Zeichnen zu. Nun versuchte ich, die kleinen verwilderten Gestalten mit meinem Stift festzuhalten; ein Portrait nach dem andern entstand. Die Kinder bettelten, daß ich jedem sein Bildnis schenken möge, ich tat es, wurde dafür aber am nächsten Tag auch noch von Müttern und einer noch größeren Anzahl Kindern umringt, die alle abgezeichnet werden wollten. Es machte mir aber viel Spaß. Beim Abschied am Bahnhof in Vevey drückte mir Mr. Taylor nochmals herzlich die Hand, und als ich rief "Auf Wiedersehen", sagte er nur: "here or in heaven!" Von ihm hatte ich auch zuerst den Augustin'schen Spruch vernommen, den ich meinem Tagebuch vorausstellte: "cor nostrum inquietum est donec resqiescat Deus, in te!" Nie habe ich diese Worte vergessen. Und nie sah ich einen jener lieben Familie wieder. Mr. Taylor starb ein Jahr später, und ich las seine glänzenden Nachrufe in Blättern, die mir Malie zuschickte. -

Zu Hause wieder angekommen, begann gar bald ein völlig anderes Leben. Meiner Mutter war es nicht angenehm, daß ich unter stark religiösem Einfluß gestanden hatte. Das Mitwirken in der Sonntagsschule erlaubte sie darum erst nach langer Zeit und vielen Bitten, und als auch Ruth Schürmann es mittun durfte. Vorerst wurden Besuche bei allen Verwandten und dem großen Bekanntenkreis gemacht und ein reger gesellschaftlicher Verkehr auch für mich angebahnt. Während meiner Schulzeit hatte ich ein Kränzchen mit Klassengenossinnen gehabt, die sich aber nach meiner Rückkehr aus Davos recht albern und herzlos gegen mich benahmen und sich geäußert hatten, sie könnten doch unmöglich so nah mit einem schwindsüchtigem Mädchen verkehren u.s.w. Zuerst war ich sehr traurig und verletzt durch ihr Gebahren, aber kaum hörten Clara Busch und Lieschen Schürenberg davon, als sie mich aufforderten, mit in ihr Kränzchen einzutreten, in dem ich viele heitere, durch Gesang und Vorlesen guter Bücher verschönte Stunden verlebt habe und mit dessen Mitgliedern, so weit sie nicht schon tot sind, ich auch jetzt noch befreundet bin. -

In diesem Jahr machte ich auch zum 1. Mal eine Hochzeit mit. Eine 17 jährige Kränzchenschwester verheiratete sich nach Cöln, und ich durfte zwar nicht das ganze Fest mitmachen, aber doch bei der Trauung und dem nachfolgenden Hochzeitsmal zugegen sein und die meisten Aufführungen ansehen. Um 10 Uhr, als der Tanz begann, hatte mich einer der jungen Kavaliere nach Hause zu bringen. Trotzdem ich mich wieder ganz gesund fühlte, blieb mir doch noch manches versagt, ganz besonders das Tanzen, zu dem sich oft genug Gelegenheit bot. Dagegen hörte ich viel gute Musik und auch sonst gab's der frohen Stunden genug. Nur bedauerte ich, nun nicht mehr Gelegenheit zu Zeichen- und Malstunden zu haben und auch nicht mehr singen zu dürfen. Doch die Gesangstunden kamen später, als ich 18 Jahre alt war, wieder an die Reihe und haben mir bis zu meiner Verheiratung sehr viel Freude gemacht.

Ich hatte jetzt mein Schlafzimmer in der obersten Etage unseres Hauses bekommen. Es lag nach Süden, der Gartenseite, hin und war durch den bis unter das Dach gewachsenen Glyzin ganz wie in Grün eingesponnen, auch die Fenster waren versteckt unter den Zweigen und den süß duftenden lila Blüten. So bekam mein Zimmer gar bald den Namen "Schwalbennest". Vor einem der Fenster stand ein Blumentisch mit Myrthen und anderen Gewächsen. Zwischen den Fenstern befand sich der breite polierte Waschtisch mit Marmorplatte, dann standen noch ein mit hellblauem Wollrips bezogenes Sofa mit rundem Tisch davor, ein entzückender Bücherschrank mit blauseidenen Scheibengardinchen, ein kleiner Schreibtisch, Kleiderschrank, Bett und einige Stühle darin. Auf dem Boden lag ein großer weicher Teppich, und ein irischer Ofen spendete im Winter behagliche Wärme. Die Tapete war sehr freundlich, hellgrau mit hellblau. Einen geregelten Tageslauf hatte ich zu Hause nicht, was mir oft leid tat. Gewöhnlich hatten wir 2 Dienstmädchen und ein Hausfräulein, also sehr reichliches Personal, auch alle 2 Wochen ein paar Tage ein Flickfräulein und auch jegliche Hilfe für die Wäsche.

So wurde ich denn ein recht verwöhntes Ding, das sich niemals ein Kleidungsstück ausbessern, geschweige denn einen Strumpf stopfen brauchte. Im späteren Leben habe ich das aber ehrlich doppelt und dreifach nachgeholt. Nur, wenn meine Mutter mal ohne eins der Dienstmädchen war, was bei ihrem rasch aufgeregtem Temperament leicht vorkam, mußte ich ordentlich heran, mußte Betten machen, Zimmer mit reinigen helfen und auch mitunter in die Küche. Ich wüßte nicht, daß mir auch nur irgend eine Hausarbeit wäre regelrecht gezeigt worden, aber ich lernte sie doch alle. Meine Mutter war eine herzensgute und sehr liebevolle Frau, aber ihre Aufgeregtheit, die teils auf Temperament, teils ihrem schweren Unterleibsleiden beruhte, kannte oft keine Grenzen. Mein Vater grämte sich manchmal sehr darüber, er blieb immer der stille, anspruchslose Mann und begehrte nur Ruhe und Frieden.

Bei Mutter stellten sich auch manchmal hysterische Krämpfe ein, das war mir immer ganz schrecklich. Sie fiel dann, meist nach einem Ärger, plötzlich totenbleich vom Stuhl, lag an der Erde unter beständigen Zuckungen und bewußtlos, und wir hatten immer große Mühe, die sehr korpulente, schwere Frau auf ihre Chaiselongue zu lagern und ihr die beengenden Kleidungsstücke zu lösen. Aber einmal, es war in Meinberg, als Mutter wieder in Krämpfen lag, kam der alte Doktor in großem Zorn herein und rief ihr zu, sie müsse Rücksicht auf ihre jungen Kinder und besonders mich nehmen, sie solle es nicht so weit kommen lassen! Ich war sehr erschrocken, daß er Mama so heftig anfuhr, doch sie erholte sich tatsächlich rascher als sonst. Die Schlammbäder in Meinberg taten ihr sehr gut, so daß sie auch nach ein paar Jahren wieder herumgehen konnte, wenn sie auch immer sehr schwerfällig blieb. -

Meinen 17. Geburtstag verlebten wir zusammen in Meinberg. Da er in den Monat Juli, die Rosenzeit, fiel, war unser ganzes Zimmer von Rosensträußen erfüllt, die die vielen Bekannten dort mir geschickt hatten. Damals war da ein junger Offizier, ein Herr von P., ein blonder, hochgewachsener Mensch, der mir bei Tisch gegenüber saß und bald sein Herz an mich verlor. Ich mochte ihn gut leiden, aber nur wie einen frischen Kameraden, und ich war sehr verwundert, als mir meine Eltern eines Tages erzählten, daß er bei ihnen in bester Uniform gewesen sei und um meine Hand förmlich angehalten habe. Papa hatte ihm erwidert, ich sei noch ein halbes Kind und dächte ganz bestimmt noch nicht an Verloben oder Heiraten, aber es sei auch nicht sein Wunsch, daß ich aus meinem Kreise heraus und in eine so hochadlige Familie käme, wo man mich vielleicht doch nur über die Achseln ansehen würde. Da hatte er gesagt, seinem Vater würde ein jedes liebe Mädchen, wenn er es aufrichtig liebe, willkommen sein, ausgenommen eine Schauspielerin oder Jüdin - das habe er ihm oftmals gesagt. Zwei Tage später reiste er ab, und ich empfand absolut kein Herzweh, nur ein Bedauern, den fröhlichen Kameraden zu verlieren.

Eine gar spaßige Geschichte passierte uns einmal mit jenem Herrn v.P. Er war ein leidenschaftlicher Tänzer, ebenso wie mein jüngerer Bruder Carl, der damals Bensberger Kadett war und auch recht schmuck in seiner Uniform aussah. Jeden Sonntag war damals im Meinberger Kursaal Reunion, wozu die Detmolder Damen und vor allem die Offiziere regelmäßig herüber kamen. Ich saß dann immer still bei meinen Eltern, weil mir der Tanz nicht erlaubt war. Das empfand ich ja wohl bei dem fröhlichen Treiben etwas schmerzlich, doch ich hatte mich schon daran gewöhnt. An einem sehr heißen Sommerabend nun hatte Herr v.P. sich, durch den Tanz und Wein wohl überhitzt, seine silbernen Tressen auf dem Uniformkragen und Aufschlägen so durchschwitzt, daß sie ganz unansehnlich wurden. Er klagte das meiner Mutter, und daß es doch so umständlich sei, wieder neue silberne Tressen aus Berlin zu besorgen, denn er stand dort beim Kaiser-Franz-Garde-Regiment. Meine Mutter meinte scherzend; "Nun, schicken Sie uns nur durch Ihren Burschen den Rock zu! Delchen hat ihren Farbkasten mit, darin auch Silbermuscheln, sie wird gewiß gerne den Kragen damit etwas ausbessern!" Ich fand das zwar nicht sehr schön von Mama, konnte nun aber auch nichts mehr daran ändern. Andern Tags vor Tisch kommt nun Herr v.P. auf unser Wohnzimmer und sitzt bei einem Gläschen Morgenwein kleine Kuchen knabbernd bei uns und hat uns gerade erzählt, daß sein Bursche gleich den defekten Rock bringen würde, da klopft es schon energisch an die Tür, der Bursche tritt ein und hält uns statt des Rockes die ausgebreitete Hose entgegen! Tableau! Ich kicherte los vor Vergnügen, Herr v.P. sprang wütend dem Burschen entgegen, entriß ihm das schuldlose Kleidungsstück und befahl ihm, sofort zu gehen und erst gegen Abend es hier wieder abzuholen. Mama aber hängte so lange die Hose zu Carls Militärsachen! Naturlich habe ich die Rocktressen nun nicht versilbern brauchen. -

Es war das letzte Mal, daß wir die Sommerszeit in Meinberg verlebten. In Folge gestaltete sich der Gesundheitszustand meiner Mutter immer besser, vielleicht auch waren die Vermögensverhältnisse meines lieben Vaters nicht mehr ganz so günstige, obwohl wir im häuslichen Zuschnitt noch nichts davon merkten. Wohl sah er oft recht sorgenvoll aus und bat auch meine Mutter wiederholt, die hohen Ausgaben etwas einzuschränken. Carl war inzwischen aus der Schule entlassen worden. Er hatte nicht mal das Einjährigen-Zeugnis abgewartet, denn obwohl er eine große natürliche Schlauheit besaß, so fiel ihm doch das Lernen recht schwer, was auf die schwere Gehirnentzündung in seiner Kindheit geschoben wurde. Er war ein frischer, außerordentlich gutmütiger Junge, gab gerne alles, was er gerade besaß, an andere ab, aber ging sehr eigenwillig seine eigenen Wege und war rasch auch von schlimmen Kameraden lenksam. Leider hatte er in Bensberg seines schlechten Gehörs halber nicht bleiben können, denn eines seiner Trommelfelle war durch Scharlachfieber, das andere durch einen hohen Kopfsprung in den Rhein zerstört. Und da nun keine Aussicht bestand, daß er Offizier werden konnte, riet sein Bensberger Erzieher den Eltern, ihm keine militärische, sondern eine für seinen späteren Beruf praktischere Ausbildung geben zu lassen. Auch vom Einjährigen-Jahr würde er bestimmt befreit werden.

Er hatte in Bensberg immer in Führung allerbeste Zeugnisse gehabt, aber die Erziehungsanstalt in Field bei Mörs, an der ein Dr. Jahn, der Sohn des bekannten und sehr würdigen Bibel-Jahn als Direktor war, hatte keinen guten Einfluß auf den Jungen. Vor allem traf er dort eigentlich lauter Taugenichtse, mit denen man in Haus oder Schule nicht hatte fertig werden können, und was der eine nicht an Dummheiten und Streichen kannte, das lernte er gewiß vom andern. Dabei ein übertrieben religiöser Zwang, der nur abschreckend wirkte. Sogar die Schulbauten waren schwarz gestrichen, und es war den Knaben bei Strafe verboten, eine der lieblichen heranwachsenden Töchter des Direktors, falls man sich auf Gartenwegen traf, zu grüßen, geschweige denn anzusprechen. Wir hatten keinen guten Eindruck von der Anstalt, als wir zu Carls Konfirmation hinfuhren, nur der alte Jahn hatte etwas sehr gütiges in seinem Wesen, alle andern schienen erstarrte, liebearme Menschen zu sein, mit sehr viel angelernter Frömmigkeit, die ich persönlich rasch als abstoßend empfand. So schön ein wahrhaft frommer, demütiger Mensch ist, so schlimm derjenige, der es nur scheint.

So kam denn Carl bald wieder nach Hause und als Lehrling in eine der Gladbacher Spinnereien aufs Kontor. Damit begann ein jahrelanger tiefer Kummer für meine Eltern und eine Zersetzung des häuslichen Friedens und Behagens. Und doch muß ich, trotz seines damaligen Leichtsinns, meinen jungen Bruder in Schutz nehmen! Ich behaupte, es war nicht die richtige Methode, wie er genommen wurde, und zum Leichtsinn kam nun auch noch der Trotz und die Gleichgültigkeit. Für meine Mutter war es wohl schwer, da sie an Herrschen gewöhnt war, hier beständig auf passiven und offenen Widerstand zu stoßen, und mein Vater war monatelang abwesend durch seine langen Geschäftsreisen und ging auch gern Unannehmlichkeiten möglichst aus dem Wege. Es war damals leider Mode, Söhne, die nicht gut taten, eine Zeit lang übers Meer zu schicken, damit das härtere Leben fern von der Heimat sie zur Einsicht brächte. Dazu wurde auch meinen Eltern geraten, und Vater willigte nach langem Widerstreben darin ein. Er hing so sehr an seinem ältesten Jungen! So wurde ihm auch die Trennung von ihm bitter schwer, und er nahm auch mich mit auf die Reise nach Hamburg, wo er Carl aufs Schiff bringen wollte, um so selbst den Abschied leichter zu überwinden. Er nahm ihm eine Fahrkarte 1. Klasse (der einzigste andere Passagier darin war ein Schwager von Krupp) für die Überfahrt nach Valparaiso in Südamerika, und so hatte denn mein Bruder zunächst 7 Wochen lang die glänzendste Lebensweise, und da er von der Seekrankheit verschont blieb, gewiß auch eine sehr schöne Reise. Also eigentlich das Gegenteil, was man bezweckt hatte. In Valparaiso trat er in ein Riesengeschäft für Export von Bekannten meines Vaters als Volontär ein, lebte sorglos und in Freuden und arbeitete nicht. So erschien er denn auf Kosten meines Vaters noch vor Ablauf eines Jahres, von jenen Geschäftsfreunden wieder heimgesandt, im Elternhause. Natürlich ging es nun im alten Geleise weiter.

Nicht, daß er direkt etwas Böses getan hätte, aber er war nicht an die Arbeit zu kriegen, blieb oft bis in die Nacht aus und fand immer Freunde, die seine Zeche bezahlten. Kurz, es war wirklich sehr schlimm für uns alle. Mutter kam nicht aus der Aufregung heraus, und Vater litt sehr unter dem Kummer. Noch einmal wurde ein Versuch mit einem Verschicken nach Süd-Amerika, diesmal Buenos-Aires, unternommen - er kam wieder zurück. Dann, wahrend einer längeren Reise meines Vaters, hatte ihm meine Mutter das Haus verboten und ihn ins Vereinshaus ausquartiert, sie wollte ihn nicht mehr sehen. Carl aber wollte durchaus nicht wieder von Gladbach fort. Ach, es war zu schrecklich! Mit welchen Lockungen und Versprechungen es nun einer meiner Vettern fertig gebracht hatte, daß er doch schließlich in eine neue Überfahrt einwilligte und sich wieder auf einen Auslanddampfer bringen ließ, ich weiß es nicht. Nun fuhr er über das große Wasser nach Australien, wo er in Sidney ankam und dort monatlich eine bestimmte Geldsumme sollte angewiesen bekommen, die ihm jedoch kein Faulenzerleben weiter ermöglichte. Als Papa zurückkehrte und Carl nicht mehr vorfand, wurde er noch stiller und in sich gekehrter, und als er eines Tages den 1. Brief von ihm aus dem Briefkasten nahm, bekam er einen Schlaganfall. Du armer, Du guter Papa!

Ich greife wieder vor, wenn ich erzähle, daß es Carl in Australien sehr schlecht gegangen ist. Das Geld in Sidney blieb auf unaufgeklärte Weise aus und nun mußte er ein elendes Leben führen, vermietete sich schließlich als Schäfer auf eine innere Landstrecke und machte viele Entbehrungen durch. Schließlich gelang es ihm, wieder nach Sidney zurückzukommen und auf einem der nach Deutschland zurückfahrenden Schiffe als Heizer gegen freie Überfahrt zunächst bis Antwerpen mitzufahren. Aber zur Weiterfahrt nach Hamburg kam es nicht sofort, denn dort herrschte furchtbar die Cholera, und der Dampfer mußte 8 Tage in Quarantäne liegen, ehe auch nur ein Mensch herunter an Land durfte. Und gerade in jenen Tagen starb mein Vater! Er wurde begraben, ehe Carl Nachricht bekommen konnte. Meine Mutter aber wollte nicht, daß er jetzt heimkehrte. Als Carl in Hamburg ankam, war er schwerkrank und mußte lange Wochen im Eppendorfer Krankenhaus liegen. Späterhin wurde ihm eine Stelle in Breslau besorgt, wo er sich gut hielt. Nach einiger Zeit verlobte er sich und heiratete bald. Erst dann durfte er wieder der Heimat einen Besuch abstatten. Er ist den Seinen ein guter Versorger und liebevoller Vater geworden und jetzt schon seit einigen Jahren tot. Traurig denke ich an ihn zurück! Trotz aller Mühe war es ihm nicht gelungen, wieder richtig hochzukommen, wozu aber auch unredliche Menschen und ein endloser Prozeß viel beigetragen haben. Mein 2. Bruder, Fritz, verließ auch schon in frühen Jahren das Elternhaus und fand in Düsseldorf in der Familie eines Lehrers eine wirklich gute Aufnahme. Dort besuchte er die Realschule, schloß mit dem Einjährigen-Zeugnis ab, diente bei der Artillerie in Hannover und kam dann in eine kaufmännische Lehre nach Hamburg. Seinen Lebensgang will ich hier nicht beschreiben. Ihr Kinder kennt ja alle selbst "Onkel Fritz in Elberfeld"! Also in meiner Jungmädchenzeit war außer mir keiner der Brüder andauernd zu Hause, nur meine um 7 Jahre jüngere Schwester Clärchen, der damals ausgesprochene Liebling und Verzug meiner Mutter. Ich liebte sie zärtlich, wenn ich auch oft eine große Zurücksetzung meiner Mutter gegen dieses stets vergnügte, leichtlebige Kind mit den langen hellblonden Haaren empfand. Sie kriegte eigentlich, mehr als wohl richtig war, immer ihren Willen, und so kam es, daß sie durchaus keine Musterschülerin wurde, aber desto mehr nach der Schulzeit mit Freundinnen herumbummelte. Oftmals, wenn sie erst gegen 7 Uhr am Abend zurückkam, und nun ihr Abendbrot essen sollte, hieß es plötzlich: "Ja, Clärchen, hast Du denn eigentlich Deine Schulaufgaben gemacht? Aber, Adele, daß Du nicht dafür gesorgt hast! Nun lerne noch rasch mit ihr und hilf ihr auch bei den Rechenaufgaben und der französischen Übersetzung!"

Sie hatte ihre Gedanken damals immer irgendwo anders und schon die schönsten kleinen Liebesabenteuer. Einmal, als ich ihre Kommode aufräumen mußte, fand ich unter den unordentlich darin liegenden Taschentüchern einen Stoß Briefe von Jungenshand. Unter anderm: "Komm doch heut Abend noch zu Jutta! Du bist Penelope und sitzt im Kreise der Freier, ich komme dann als Odysseus herein!" Und dann folgte ein ganz verrücktes Gedicht, dessen Schlußreime ich nur behalten habe, sie lauteten: "Komm zu mir und laß dich küssen, ich bin ein sanftes Ruhekissen!" Natürlich lachte ich meine 12 jährige Schwester tüchtig aus! Aber sie beredete die Sache mit ihrem Gymnasiasten und erzählte mir dann rachevoll, daß er, als er letztes Mal gegen 8 Uhr an unsrer Hausschelle geklingelt und ich ihm dann aufgemacht hätte, rasch einfach weggelaufen wäre, er habe ihr erzählt, der "alte Drache" habe ihm geöffnet! Darüber mußten wir nun alle lachen, meinen Eltern wurden aber doch die Ungebundenheiten meines Schwesterchens zu viel, zumal ich mich bald verlobte und Clärchen das wundervoll und sehr nachahmenswert fand. So kam sie denn schon mit 13 Jahren in Pension zu den "Tanten Küster", wo sie noch 2 Jahre ordentlich lernen mußte. Vielleicht erzähle ich noch weiter aus ihrem Leben im Verlauf dieser "Erinnerungen", und wenn nicht, Kinder, Ihr kennt alle doch "Tante Clärchen", denn sie steht mitten im Leben.

Ich habe mit diesen letzten Erzählungen aus meinem Geschwisterkreis nur ein Bild davon geben wollen, wie es damals, als ich ins 18. Jahr ging, darin aussah. In dieser selben Zeit hatte ich selbst mein 1., mir sehr nahe gehendes Erlebnis, meine erste innige Liebe und meine erste schwere Enttäuschung. Ich mag nicht davon schreiben, ich hab's damals schwer überwunden, daß ich, weil unsre Vermögensverhältnisse zurückgegangen waren, verlassen wurde und der Treuschwur gebrochen. Und ich habe den, den ich so tief liebte und der mich deshalber verließ, später zurückgewiesen, als er mich nicht hatte vergessen können und seinen Antrag wiederholte. Hin, hin -! Ich fand an Eurem Vater den ehrenwerten, festen Charakter, den treuen, mich über alles liebenden Mann, der mein Leben erst so groß und schön gestaltet hat, wie es nachher wurde. -

Im Sommer 1880 war ich wieder sehr elend, ohne doch richtig erkrankt zu sein. So wurde ich mit einer befreundeten Gladbacher Familie für einige Wochen zur Kräftigung an die Nordsee, nach Borkum, geschickt. Kalt zu baden war mir leider nicht erlaubt, aber ich lag die meiste Zeit im warmen Dünensand oder saß lesend in einem Strandkorb, schaute auf die ewige Bewegung der Wellen und ließ Luft und Sonne auf mich einwirken. Damals war gerade das "Rote Buch" mit dem Benzlerschen Stammbaum, zu dem wir auch als entfernter Anhang gehörten, erschienen und hatte uns alle, voran meinen Vater und mich, brennend interessiert. Ich beschloß sofort, auch einen Drosteschen Stammbaum zusammenzustellen, jene Aufzeichnungen mit Nachahmungen der alten Scherenschnitte und mit den vorhandenen Familienphotographien zu versehen und meinem guten Papa zu schenken. Die Benzlers waren uns persönlich noch alle unbekannt, aber 2 junge Vettern des Stammes, beide Mediziner, Hermann und Hans Benzler, hatten schon mehrmals bei meinem Vater wegen Familiendaten angefragt, und er hatte ihnen auch mitgeteilt, daß er im Besitz der Ahnenbilder sei, die sie noch nicht aufzufinden wußten. Als ich nun in Borkum weilte, hatte der junge Studiosus Hans Benzler an meinen Vater geschrieben, er führe in den nahen Ferien den Rhein hinunter und hatte zugleich angefragt, ob er meine Eltern für einen Tag besuchen dürfe, um dort die Bilder unsrer gemeinsamen Ahnen kennen zu lernen. Das hatte mir Papa nach Borkum mitgeteilt und hinzugefügt, der junge Neffe und Vetter käme schon bald, ich würde ihn also nicht kennen lernen, weil ich erst später heimkehren solle. Doch "mit des Geschickes Mächten ist kein ewger Bund zu flechten"! Am Abend meines 18. Geburtstages, als ich gerade einen Brief zur Post brachte, lief da gerade ein Telegramm für mich ein, das mir gleich ausgehändigt wurde und folgende Worte enthielt: "Herzliche Geburtstagswünsche vom unbekannten Vetter Hans." Ich war recht erstaunt darüber und hatte auch meinen Spaß daran, bedauerte auch etwas, nun den Vetter nicht kennen zu lernen, da er in wenigen Tagen in meinem Elternhaus erwartet wurde. Das Telegramm war aber so entstanden: Der Vetter Hans hatte gerade das Stiftungsfest des Corps Frankonia in Würzburg natürlich sehr fröhlich mitgefeiert und sich plötzlich erinnert, daß das unbekannte Cousinchen Adele Droste, das gerade in Borkum weilte, ja heute Geburtstag hätte und in feuchtfröhlicher Stimmung ihm den telegraphischen Glückwunsch gewidmet. Etwa 1 Woche später trat in Borkum Springflut ein, und es konnte nicht gebadet werden. Das verdroß meine Gladbacher Bekannten so sehr, daß sie nicht länger in Borkum bleiben mochten und auch ich nolens volens mit ihnen die Heimreise antreten mußte. Als ich mich wieder zu Hause befand, fragte ich sehr bald: "Wie ist denn der Vetter Hans eigentlich gewesen?" und da hörte ich, daß er bis dahin noch nicht erschienen sei, sondern bis zur nächsten Woche seine Reise aufgeschoben habe. Eines Tages nun erhalten wir seine Anmeldung auf denselben Abend. Der Zug sollte gegen 10 Uhr kommen, und mein Vater nahm an, es sei am Rheinischen Bahnhof, nicht am Bergisch-Märkischen, und pilgerte zur angegebenen Zeit dorthin, ohne jemand anzutreffen. Ich hatte das Abendbrot, ein schönes Rinderfilet mit Salat, zu bereiten gehabt und stand gerade an unsrer Kellertür, um Wein heraufzuholen, als die Hausschelle ging und gleich darauf ein sehr lustig aussehender junger Mensch eintrat, meine Mutter ihn begrüßte und ihn gleich nach seiner Vorstellung in das weitgeöffnete, hellerleuchtete Wohnzimmer geleitete, etwas pathetisch ausrufend: "Ihre Ahnen heißen Sie willkommen!" Darüber mußte ich noch still für mich lachen, als Mutter schon nach dem Abendbrot schellte, ich unser Mädchen mit dem Hineintragen und Servieren beauftragte und nun auch in das Zimmer ging.

Da trat mir gleich der blonde Vetter sehr lebhaft entgegen: "Cousinchen, nicht war, wir nennen uns gleich: Du?" Ich dachte: "Na, ein bißchen unverschämt ist er ja!" und setzte mich an die entfernteste Tischecke. Er entwickelte einen recht gesegneten Appetit, denn er hatte vom frühen Morgen an nichts mehr gegessen und der zarte Braten mundete ihm vorzüglich. Man geriet in ein allgemeines Gespräch über die Familienforschung, und schließlich geleitete ihn mein Vater auf das Fremdenschlafzimmer, während ich noch unten den Tisch abdeckte. Vater fragte, als er wieder herunterkam, mich scherzend, wie mir denn der neue Vetter gefiele? und ich antwortete: "Ach, gefährlich wird er mir nicht! Kann der aber essen!", während Hans oben bald einschlief und schon träumte, der Racker, er habe mir den ersten Kuß gegeben und sich mit mir verlobt.

Meine Eltern hatten ihre Freude an dem offenen, fröhlichen Studiosus, und da sie sehr gastfrei waren, forderten sie ihn auf, doch noch einige Tage zu bleiben. Aus den paar Tagen wurden aber volle 14 Tage, denn nicht nur unsre Gastlichkeit hielt ihn, sondern auch der Mangel an Reisegeld, denn genau vor seiner Abreise aus Würzburg war er von einem Corpsbruder um eine größere Summe angepumpt worden und hatte diese auch bereitwillig gegen das Versprechen, sie sofort in den nächsten Tagen zurückzuschicken, geliehen. Doch der saumselige Commilitone ließ ihn Tag für Tag vergeblich den Briefboten erwarten, so daß sich schließlich Hans meiner Mutter offenbaren mußte. Diese hatte schon belustigt ihm angemerkt, daß er in Geldverlegenheit war, denn alle 2 Tage sagte er möglichst harmlos zu ihr, er habe gerade kein kleines Geld, um sich rasieren zu lassen, ob sie es ihm nicht vorstrecken wolle? Er hatte jedoch die Genugtuung, daß am Tage seiner Abreise einige 100 Mark ihm zurückgeschickt wurden. Hans war damals noch in voller Abhängigkeit von seinem Vormund, dem Justizrat Haushahn, der auch noch nach seinem Mündigwerden das kleine ihm von seinen Eltern hinterlassene Vermögen sehr sparsam verwaltete.

Es war ein ganz herrlicher August in diesem Jahre! Die hohen Rosenstöcke im Garten waren überreich mit dunkelroten Rosen bedeckt und meine in ein Beet eingepflanzten Myrthen standen voll zarter, weißer Blüten. Meist saßen wir auf dem lauschigen Platz unter der Kastanie und freuten uns an dem ausdrucksvollen, vorzüglichen Vorlesen von Hans. Er hatte Reuters "Stromtid" gewählt, die Mama und ich noch nicht kannten und deren Innigkeit ich tief auf mich wirken ließ. Wenn Mama ab und zu von einem der Mädchen ins Haus gerufen wurde, weil eine Marktfrau oder sonst jemand da war, dann ließ Hans gleich das Buch sinken und sah mich an, ja, bat ganz treuherzig: "Cousinchen, gib mir doch einmal einen Kuß!" Ich dann erschrokken: "Aber Hans, das tut man doch nicht!" Er: "Doch, Cousinchen, all meinen andern Basen darf ich einen Kuß geben, warum denn Dir nicht?" Ich: "Nein, ich will nicht!" Er: "Ach, Cousinchen, dann nur einen zarten Kuß auf Dein Händchen". Ich lachend: "Nein, nein, das wollen wir garnicht erst anfangen!" Er: "Bitte, bitte, dann laß mich doch nur einen kleinen Augenblick Deine Hand halten dürfen!" Selbst das wurde nicht gestattet, und ich stickte eifrig an meiner Arbeit weiter und wußte doch ganz genau, daß der nette blonde Vetter vom 1. Tag an mir sein Herz geschenkt hatte.

Doch ich wehrte mich gegen eine neue Liebe, wollte dem fernen Ungetreuen, den ich immer noch nicht aufgeben konnte und den ich seiner Geldgier halber doch verachtete, noch treu bleiben, ein langes, unglückliches Leben hindurch! Ein Mädchenherz ist in dieser Beziehung doch auch ein trotziges und verzagtes Ding, und Sonne und Regen müssen noch gar oft daran rütteln, ehe es sich wieder auftun mag. Aber das Vorlesen war doch wunderschön und die heiteren und ernsthaften Unterhaltungen auch, denn Hans war ein sehr kluger, scharf denkender Mensch und eine durch und durch offene, ehrliche Natur. Kein Wunder, daß ich doch etwas Einfluß auf mich verspürte. Dazu seine wunderschöne Singstimme mit ihrem weichen und doch hellen Klang! Ich begleitete ihn zu seinen Volks- und Studentenliedern oft auf dem Klavier, und er merkte mir bald die Freude an der Musik an und redete meinen Eltern andauernd zu, sie möchten mir doch wieder Gesangstunden geben lassen. Den Einwurf, ich müsse meine Lunge noch schonen, widerlegte er damit, daß es doch im Gegenteil außerordentlich gut für mich sein wurde, wenn ich durch Gesangstunden auch ein systematisches, tiefes Atemholen lernen würde! Und zu meiner großen Freude erreichte er das Versprechen, daß die Eltern nochmal mit unserm Hausarzt darüber beraten wollten, und wenn der einverstanden sei, dann solle ich bei der vorzüglichen Lehrerin, die einigen meiner Cousinen Unterricht gab, ebenfalls Gesangstunden bekommen.

Es hat auch nicht lange gedauert, so wurde mit diesem Unterricht wieder begonnen, ich bekam italienische Tonübungen und bald auch Lieder. Meine alten hohen Sopranhefte konnte ich aber leider kaum noch benutzen, die Stimme war tiefer und voller geworden, in gut ausgeglichener Mittellage, und ich konnte gleichsam mit ihr machen, was ich wollte, so biegsam war sie. Nun sang ich Schumann, Franz und Schubert und sonst allerlei schöne Sachen, hatte selbst eine sehr große Freude dadurch und fast ebenso meine Eltern und Zuhörer. Für diese Freude dankte ich dem Vetter im Stillen. Eines Abends kamen wir bei Sonnenuntergang aus unserem Garten wieder in das Wohnzimmer. Ich ging voran, er dicht hinter mir. Wir schauten zu den an der Wand hängenden, vom letzten Abendgold übergossenen Ahnenbildern hinauf, da fühlte ich mich plötzlich von seinem Arm umschlungen und hörte ihn neckisch flüstern: "Delchen, Delchen, wie sich die Ahnenbilder freuen, wenn wir unter ihnen stehen!" Ich rannte ihm davon, und er selbst war auch klug genug, vorläufig nicht weiter mich zu drängen. Vor dem Abschied bat er meine Mutter, sie möge ihm erlauben, mir doch manchmal zu schreiben. Worauf sie antwortete, das könne er tun, aber sie und Papa würden sich auch über seine Briefe freuen und sie deshalb lesen.

Das war nun nicht gerade seine Absicht gewesen, wie ich bald merken sollte. Zuerst erschien wirklich ein schön stilisierter Brief so quasi für die Allgemeinheit, aber als ich wenige Wochen später zu meiner Cousine Clara Schürmann nach Solingen reisen durfte, kam schon gleich am andern Tag ein so dicker Brief an, daß mich schon sein äußeres Aussehen in Erstaunen setzte. Der Umschlag trug 2 Schreiben, ein längeres, liebeglühendes für mich, das mir das Herz klopfen machte, und ein ganz harmlos gehaltenes, das auch für die Augen der Eltern bestimmt war. Fast war ich ärgerlich darüber - wie konnte Hans nur so an mich schreiben? Ich hatte ihm doch wirklich kein Recht dazu gegeben? So schrieb ich denn ziemlich kühl ihm gleich zurück, daß ich seine Gefühle nicht so erwidern könne, wie er wünsche, und ich müsse ihm ehrlich sagen, daß mein Herz eine andere Liebe noch nicht ganz überwunden habe, obwohl die Sache für mich abgetan sei. Dann bekam ich monatelang keine einzige Zeile, aber schließlich in der Weihnachtszeit doch einen netten, allgemein gehaltenen Brief, in dem er seine Freude aussprach, daß nun doch im März der 1. Benzlersche Familientag stattfinden solle und daß er und seine Verwandten fest annähmen, daß meine Eltern auch mit mir zu demselben hinkommen würden. Davon hatten wir allerdings zu Hause schon oftmals gesprochen, und die Eltern verspürten große Lust zu dieser Reise und einem 8-10 tägigen Aufenthalt in der Hauptstadt.

Der Winter war lebhaft mit viel Geselligkeit, Theater und Konzerten vergangen. Auch die engere Familie Busch-Schürmann-Droste hatte unter sich ein Lesekränzchen. Die Cousinen und ich musizierten oft miteinander. Wie bewunderte ich doch Aenny Blanckes glockenreinen Sopran und Claras weichen Alt! Beide Schwestern wußten auch vorzüglich Klavier zu spielen und unaufdringlich Lieder zu begleiten! Aenny war seit einigen Jahren mit Emil Blancke verheiratet, und die 18 jährige Clara hatte sich von ihrem 22 jährigen Vetter Otto Busch auf sein Gut heimführen lassen, das nicht weit von Gladbach, in Hochneukirch, lag. Eines Morgens waren Mama und ich bei Tante Ernestine Busch, um zu hören, wann Clara von ihrer Hochzeitsreise zurückkommen würde. Sie hatte eben Nachricht erhalten, daß das junge Paar schon am vorhergehenden Tage ins eigene Nest eingezogen war und wollte noch am selben Nachmittage einmal hinfahren.

Sie erzählte uns auch noch viel davon, wie niedlich und drollig doch jetzt ihr 1. Enkelkindchen, die kleine Frida Blancke sei, und vergnügt trennten wir uns. Aber als wir beim Mittagessen saßen, wurde heftig an unserer Hausglocke geschellt und die Waschfrau von Buschs stand zitternd vor unserer Tür und rief uns in höchster Aufregung entgegen, wir sollten doch rasch zu Frau Busch kommen, niemand außer ihr sei da, die Schulkinder weg, um den Vater und den Doktor zu holen und die Mädchen auch fortgestürzt. Man habe eben Frau Busch in einem Wagen nach Hause gebracht und sie liege im Sterben. In höchster Eile stürzten Mutter und ich hin und gleich ins Wohnzimmer. Da lag die Tante Ernestine, die wir vor ungefähr einer Stunde im blühendsten Leben verlassen hatten, noch mit Hut, Mantel und Handschuhen angetan, zurückgelehnt in ihrem Sessel - tot! Es war unfaßbar! Sie hatte sich sehr mit dem Mittagsmahl beeilt gehabt, war wohl zu rasch zur nahen Bahn geeilt und gleich am Zaun vor dem Stationsgebäude zusammengebrochen. Ein Droschkenkutscher, der sie erkannte, hatte sie in seinen Wägen getragen und nach Hause gefahren. Dort hatten die Mädchen sie ins Wohnzimmer gebracht und ihr noch den Mantel und den Vorderschluß ihres Kleides geöffnet; sie hatte nur noch gesagt: "Ich sterbe. Herr Jesus, ich komme!", sich im Stuhl zurückgelehnt und war an einem Herzschlag verschieden. Es war furchtbar für die ganze Familie, die sich bald vollzählig im Hause versammelte! Ihr Mann war völlig wie erstarrt und konnte bis zu ihrem Begräbnis keine Träne finden. Auch wir fühlten heftig diesen Verlust und die Majestät des Todes - wie ist doch ein so plötzliches Ende erschütternd und zeigt uns, welch Nichts wir Menschen vor dem höchsten Gott sind! Buschs hatten damals noch 10 Kinder, die jüngste Tochter, Martha, war erst 8 Jahre alt, und außer Clara und Aenny waren noch alle im Elternhaus. Da griff das junge, aber sehr energische Käthchen tapfer zu und übernahm die Führung des Haushalts und, nachdem sie sich später auch verheiratete, ebenso eine nach der anderen der jüngeren Schwestern. Mutter war auch sehr schwer betroffen durch den Verlust ihrer einzigen Schwester, mit der sie bisher alles Erleben geteilt hatte. Inzwischen kam die für den Familientag in Berlin festgesetzte Zeit immer näher. In Trauerkleidern fuhren wir Anfang Mai hin und lernten dort eine Reihe uns noch unbekannter Verwandten, die durch das "Rote Buch" sich wiedergefunden hatten, kennen. Hans und Hermann Benzler, letzterer damals als Militärarzt in Hannover stehend, waren, wie auch Otto Droste, der ebenso wie Hans in Berlin noch sein Studium fortsetzte, täglich mit uns zusammen, und auch die älteren Verwandten aus Zoppot und Genthin, Brück und Potsdam benutzten meiner Eltern großes Wohnzimmer im Hotel gern als Treffpunkt. Die Mahlzeiten wurden, wie auch die Abende, gemeinsam in einem guten Restaurant verbracht, und man kam sich dadurch bald näher. Nur die Tante Malie Benzler aus Zoppot, die ebenfalls wie Hans Benzlers Mutter, eine geborene Längner war, lernten wir nicht kennen, da sie gleich nach ihrer Ankunft in Berlin einem Schlaganfall erlitten hatte und bald nach unserem Familientag im Hotel starb. Also wieder in sorglose, frohe Tage ein jähes Ende und Erschrecken hinein!

Der Familientag am 18. Mai (1883!) wurde durch eine große Festtafel in einem schön geschmückten Hotelsaal gefeiert. Es waren nur wenige junge Mädchen dabei, außer mir nur die sehr schwerfällige Emilie v. Cölln, desto mehr lustige und galante Vettern. Unter ihnen auch der "Meergreis", wie der damalige Kapitänleutnant Ernst Benzler seines fast weißblonden Haares und Bartes halber allgemein benannt wurde, und auch der Stabsarzt Max Benzler, der einzige Bruder von Hans. Bald wurde mit allen Verwandten Duzfreundschaft geschlossen, und die alten Onkels wollten alle von uns jungen Mädchen als Besiegelung derselben einen Kuß haben, den sie sich auch holten, während die Vettern das Nachsehen hatten. Drei Tage später, als meine Eltern und ich unter Hansens Führung den zoologischen Garten besichtigten, wußte Hans es so einzurichten, daß wir allmählich hinter den Eltern zurückblieben, die dort das Abendessen im Restaurant bestellen wollten, und sie aus den Augen verloren. Er betrat mit mir eine Laube, die auf einer etwas erhöhten Stelle an einem kleinen Teich lag, und schüttete mir da, meine Hand ergreifend, sein Herz aus: wie er immer all die Zeit nur an mich gedacht habe und daß ich ihn doch wiederlieben möge! Ich hatte diese Aussprache kommen sehen und war mir darüber klar, daß ich dem Hans von Herzen gut sei, wenn auch nicht stürmisch in ihn verliebt, und daß ich dem festen, starken Charakter dessen, vor dem ich große Achtung hatte, voll Vertrauen mich und mein Lebensschicksal anvertrauen könne. Wir verließen als ein von Herzen glückliches verlobtes Paar unsern stillen Platz, und die Eltern mögen wohl den stillen Abglanz unsres Glückes auf unsern Gesichtern gelesen haben, denn sie blickten uns so eigentümlich erstaunt an, fragten aber nichts. Auf dem Heimweg zum Hotel fand Hans noch Gelegenheit, mich leise zu fragen, ob er mich am nächsten Tage nicht noch einmal allein treffen könne, denn er wolle sich erst etwas später mit meinen Eltern aussprechen.

Ich sagte ihm, daß die Eltern beabsichtigten, andern Tags gegen Mittag einen Kondolenzbesuch bei Onkel Hermann Benzler zu machen. Und richtig, kaum waren sie weggefahren, so stürmte Hans rasch die Treppe hinauf und in unser Wohnzimmer, und wir verlebten selige Minuten. Die Fenster zur Straße standen offen, und ich hatte ihm gesagt, daß wir wohl am Rollen des Wagens die Rückkehr der Eltern bemerken würden, und ihn gebeten, ihnen dann doch gleich zu sagen, daß wir uns verlobt hätten. Er wollte noch sehen, wie wir nebeneinander aussahen, hatte seinen Arm um mich geschlungen und trat mit mir vor den hohen Wandspiegel zwischen den Fenstern, in den wir schelmisch und glücklich hineinschauten und so in unsern Anblick versunken waren, daß wir das leise Öffnen der Stubentür nicht hörten. Erst als wir im Spiegelglas hinter uns die Gestalten der Eltern erblickten, fuhren wir erschrocken auseinander, und ich rief Hans nur noch schnell zu: "Nun sag's aber den Eltern", und stürzte glühend in das nebenan liegende elterliche Schlafzimmer. Dort kühlte ich mein heißes Gesicht in kaltem Wasser und löste mein stark zerzaustes Haar auf, um es neu zu ordnen, dabei jedoch auf die Stimmen im Wohnzimmer lauschend. Ich hörte Mama aufgeregt eine Schranktür und die Fensterflügel heftig zuschlagen und meinen friedliebenden Papa einige freundliche Worte sagen, dann Hansens erklärende und bittende Stimme, und schon trat Mama weinend zu mir herein und schloß mich in ihre Arme. Ich flocht rasch mein Haar fertig und durfte nun mit ihr zu meinem Verlobten gehen. Aber die Eltern meinten doch: "Kinder, Kinder, ihr seid noch so jung! Hans ist noch nicht mit dem Studium fertig, und du, Delchen, weißt doch, daß du nicht vor 24 Jahren heiraten darfst? Und niemand darf es einstweilen wissen, bis Hans richtig Doktor ist, daß ihr euch schon verlobt habt! u.s.w.!" Uns war alles recht, und jede Zukunftssorge lag uns noch himmelfern, uns genügte vollkommen, daß wir einander nun hatten. Und doch merkten die Vettern wohl bald die unheimlich-heimliche Verlobung, denn manche neckische Bemerkung jagte mir immer wieder die Verlegenheitsröte auf die Wangen. Bald mußten wir jedoch wieder nach Gladbach zurückkehren, und Hans wurde für seine nächsten Ferien bei uns eingeladen. Sobald er seinen Doktor würde bestanden haben, sollte unsre Verlobung veröffentlicht werden, aber eine Wartezeit von mindestens 3 Jahren wurde gleich von den Eltern festgesetzt, denn Hans müsse erst eine nachweislich gute Praxis haben und ich etwas älter sein!

Zu Hause ging ich wie im Traum herum. Und als ich im Kränzchen meinen für den Kaffee bestimmten Zucker gedankenlos statt in die Tasse in die Milchkanne warf, fingen auch die Freundinnen an, mich zu necken, doch ich verriet ihnen nichts. Erst dann, als er nach baldigst glücklich bestandener Doktorprüfung gleich nach Gladbach kam und die Kränzchenfreundinnen gerade bei mir eingeladen waren, fanden sie bei ihrem Nachhausekommen die von mir raschgeschriebenen zierlichen Verlobungskarten vor und stürmten nun gleich wieder ganz überrascht in unser Haus, um mir äußerst freudig erregt ihre Glückwünsche zu bringen. Wunderschöne, glückselige Stunden verlebten wir nun im Elternhause und auf unseren Spaziergängen in der nächsten Umgebung. Hans ließ es sich auch sehr angelegen sein, mich erzählenderweise mit seinen Verwandten mütterlicherseits bekannt zu machen, denn den väterlichen Stammbaum kannte ich durch das "Rote Buch" schon genau, und von den Ururgroßeltern an hatten wir ja gemeinsame Vorfahren, denn es waren gerade 100 Jahre vergangen, daß die Schwester von Hansens beiden Urgroßvätern, die blonde Anna-Justine-Henriette Benzler, meinen Urgroßvater Droste in Detmold geheiratet hatte.

Meines Hans' Mutter war eine der 7 Töchter des Sanitätsrats Längner in Tangermünde an der Elbe gewesen, der auch noch 2 Söhne besessen hatte. Alle 7 Schwestern hatten sich verheiratet, drei derselben an Ärzte, z.B. an den Generalarzt Löffler in Berlin, den Doktor Hermann Benzler in Zoppot und den Dr. Emil Benzler in Wernigerode, Hansens Vater. Die Ehemänner der anderen Schwestern hießen: Huch aus Quedlinburg; Weißner, Oberamtmann auf Bornin, der kronprinzlichen Domäne; Prof. Dr. Rieke, der Sprachforscher, in Weimar, und v. Wunster, Fabrikbesitzer in Andolfingen. Des Großvaters Längners Frau, mit der er noch die goldene Hochzeit verlebte, war Wilhelmine Karoline Künzel gewesen. Zu der goldenen Hochzeitsfeier waren damals auch die Ilsenburger Benzlers mit ihren Kindern und unter denselben dem kleinen Hans gefahren, und er hatte sein Lager in einer mächtigen Kommodenschublade gefunden, weil sonst kein Platz war, und hatte seiner ältesten Schwester Willi unterwegs auf der Wagenfahrt manche Not gemacht. Großvater Längner war der Hausarzt der Familie Bismarck, hatte der Gattin bei der Geburt ihres Sohnes Otto, des späteren großen Reichskanzlers, beigestanden und war auch dessen Pate geworden.

Die Mutter meines Verlobten war eine Pensionsfreundin von Auguste Haushahn, der Tochter seines Großvaters, des Kammerdirektors Justus Benzler oben auf dem Schlosse in Wernigerode. Diese hatte einmal Adelheid Längner zu sich eingeladen, und das sehr kluge Mädchen (Adelheid sowie ihre Schwester Malie hatten das Lehrerinnenexamen gemacht) wußte sich der Familie sehr angenehm zu machen und das Herz des ältesten Sohnes Emil zu gewinnen. Tante Auguste Haushahn schilderte sie mir als ein blühend aussehendes Mädchen mit einem auffallend zarten, weißen Teint und gesunder Wangenröte, außerordentlich ehrgeizig und ordnungsliebend veranlagt. Sie war nur zufrieden, wenn sie die Erste in ihrem Kreise sein konnte. Die Ehe war nicht sehr glücklich, ja, es trat durch die unbegründete Eifersucht Adelheids eine sehr große Entfremdung ein, so daß man nur der Kinder halber nicht zur Scheidung schritt. Die Ordnung und Sauberkeit im Hause war bedrückend groß, so daß sich die Verwandten dort nie recht gemütlich fühlten. Als Beispiel erzählte Tante Auguste, daß, sobald man an nassen Tagen ins Haus getreten und die Innentreppe erstiegen gehabt hätte, eins der Dienstmädchen mit einem Scheuertuch hinterher gegangen wäre. Eine der Cousinen hatte einmal beim hastigen Ausgehen rasch ihren Nähkasten auf das Klavier gesetzt. Beim Zurückkommen suchte sie ihn vergebens. Schließlich sagte ihre Tante in strengem Ton: "Wenn Du noch nicht weißt, daß man solche Sachen nicht auf eine polierte Fläche setzen darf, so merke es Dir daran, daß ich Dir den Nähkasten in den Kohlenkasten gesetzt habe, wo er ebenso wenig hingehört."

Besonders die älteste Tochter, Tante Willi, wurde sehr streng und häuslich erzogen und behielt ihr Leben lang eine gewisse Ängstlichkeit und Unselbständigkeit, fragte wohl hundertmal um die gewünschte genaue Ausführung einer Arbeit oder eines Gerichtes und blieb bei aller Herzensgüte und Aufopferungslust bis an ihr Ende eine ängstliche Martha-Natur. Allerdings mit Mariensinn! Die Kinder des Ilsenburger Doktorhauses erschienen nach 7 jähriger Pause, ausgenommen die Zwillinge, Sophie und Dorchen, die vom Bruder Max durch 5 Jahre getrennt waren. Als Hans geboren wurde, zählte Willi schon 18 Jahre und nahm der damals schon leidenden Mutter die ganze Sorge für das Brüderlein ab. Der Vater ist eine joviale Natur gewesen, verfügte aber auch über großen Sarkasmus und bissige Schärfe. Er machte sich nichts daraus, morgens in Schlafrock und Pantoffeln die grünen Außenläden seines Hauses selbst zu öffnen, so daß manchmal die Passagiere in der vorbeirasselnden Postkutsche über ihn lachen mußten. Seine Sprechstunden hielt er sehr gemütlich ab, sich zwischendurch noch anziehend und selbst rasierend, so auch die Leute aus dem Hausflur zu sich hereinrufend. Von Armen schrieb er nichts auf. So erzählte mir erst kürzlich ein alter Ilsenburger, der Dr. Benzler dort sei ein so guter Herr gewesen, denn er wäre doch als Kind dabei gewesen, als ihn eine Tagelöhnerfrau angeredet hätte, sie müsse ihn noch bezahlen. Worauf er geantwortet habe, er ginge gerade zu dem reichen X, dem wolle er ihre Rechnung schon mit aufs Konto setzen. Kamen Neujahr die Leute, um ihn zu fragen, was sie ihm denn schuldig seien, so habe er nur gesagt: "Na, das wissen Sie ja schon! Sie haben's gewiß schon in der Tasche bei sich, und so ist's genug." So hat er denn keine Reichtümer angesammelt.

Mit seinen Söhnen war er oft recht streng. So, wenn er zum Brocken hinauf ritt und Max oder später Hans ihn begleiten durfte, dann fragte er im langsamen Hinaufreiten nach allen möglichen Vokabeln und Regeln der lateinischen Sprache, und hörte er eine unrichtige Antwort, so gab's gewiß von oben herab einen Jagdhieb mit dem Stöckchen. Auf diese Weise wurden den Jungens die Ausflüge mit dem Vater recht verleidet. Max besuchte als Schüler das graue Kloster in Magdeburg, Hans, an dem die Mutter sehr hing, durfte seinen 1. Unterricht durch den Ilsenburger Kantor Hahne erhalten. Er ist ein munterer lieber Bursch gewesen, stets voll von drolligen Einfällen und Streichen und war sehr sangeslustig. Unter dem Tisch sitzend fing er als Kind seine Lieder in endloser Reihenfolge an, und wenn man rief, er möge doch nun aufhören, so war das letzte gewiß noch nicht zu Ende und auch der letzte 12. Vers mußte noch herausgeschmettert werden. Tiere liebte er sehr. Immer hatte er Vögel und Kaninchen. Mit seinem gleichaltrigen Freund, dem kleinen Bäckerssohn August Pieper, zimmerte er sich einst auf dem engen Hof einen Kaninchenstall und benutzte dazu als Wände die alten uneingerahmten Familienbilder, die achtlos oben auf dem Boden des Elternhauses standen. Wie bedauerte er nachher doch, daß ihm das war zugelassen worden, denn gerade er hing außerordentlich an allen Familienüberlieferungen und hätte wer weiß was darum gegeben, wenn er die alten Bildnisse hätte wiederschaffen können! August Pieper aber, sein getreuer Freund, mistete für das Doktorssöhnchen unverdrossen immer den Kaninchenstall aus und sagte dabei: "Wat ick for Hansen daue, daue ick för keinen nich!"

Max dagegen erschreckte die Leute. Als er klein war, saß er einmal mit der Klystierspritze seines Vaters auf der Hausschwelle und rief die Vorübergehenden an, ob sie eins haben wollten? Und einmal, als gerade die Kirche ausging, hatte er das sonst hinter einem Vorhang in seines Vaters Sprechstube stehende Skelett aus der Bodenluke gesteckt, so daß die frommen Kirchgänger, unter ihnen auch die Mutter und die Schwestern, ganz entsetzt waren.

Da Willi den kleinen Hans fast ganz allein in ihrer Obhut hatte, hing er mit der zärtlichsten Liebe an ihr. Er sah zu, wie sie in der Küche half und ängstlich die Speckstreifen an einem Lineal entlang schnitt, damit die gestrenge Mutter nichts daran auszusetzen fand. Die etwas superweise Sophie war ihm ziemlich gleichgültig, aber die Patentante Emilie Harzmann im nahen Drübeck liebte er auch ganz besonders. Noch als kleiner Schüler erkletterte er auf dem jäh abfallenden Ilsestein das hohe freistehende Kreuz, bekam aber nachher dafür eine ordentliche Tracht Prügel. Als er bei Kantor Hahne ausgelernt hatte, kam Hans nach Wernigerode in die Pension des Pastors Niemann und dort aufs Gymnasium. Aber die Mitpensionäre lernten ihn da zu so viel Dummheiten und zum Kartenspielen um Geld an, daß die Eltern ihn bald von Wernigerode fortnahmen und auf die Klosterschule in Ilfeld a./Harz gaben. Diese hatte auch schon sein Großvater, der Kammerdirektor, besucht gehabt, während der Vater in Roßleben erzogen worden war. Die Großmutter aus Wernigerode hatte noch einige Jahre vor ihrem Tod oben im Hause ihres Sohnes in Ilsenburg ihre Zimmer gehabt, sich aber mit der Schwiegertochter wenig gut gestanden, denn sie war eine gemütliche, herzenswarme, aber etwas unordentliche Frau, eine von ihren Kindern allen und besonders ihrem Sohn Emil hochgeehrte und geliebte alte Dame. Als die Schwiegertochter ihr eines Tages die zum Flur hinaus sich öffnende Schlafstubentür durch einen schweren Schrank zustellen ließ und der Großmutter nur der einzige Ausgang durch das Wohnzimmer verblieb, mochte sie nicht mehr herunterkommen. Doch kein Tag verging, daß ihr Sohn sie nicht oben in ihrem kleinen Reich besucht hätte. Sie wurde auf dem Ilsenburger alten Friedhof begraben, und wir sahen dort noch ihren Gedenkstein, der aber im vorigen Sommer einem Neubau zum Opfer fiel.

Der Verkehr mit den im Harze wohnenden Verwandten, mit Haushahns in Halberstadt, mit dem Drübecker Pfarrhause und Klosterstift und mit der Familie von Wilhelm Benzler auf der Domäne Himmelgarten bei Nordhausen war ein sehr reger. Besonders gut verstand sich Hans mit seinen fröhlichen und sehr schlagfertigen Cousinen Mimi (Marie) und Auguste Benzler, und auch er war ihr Lieblingsvetter. In Ilfeld fühlte sich Hans sehr wohl. Er gewann eine Menge Freunde und war wohl einer der lustigsten. Das Lernen fiel ihm leicht, da er ein ausgezeichnetes Gedächtnis besaß, aber er nahm es nicht sehr ernst damit, streifte lieber in den Bergen herum, entwarf Aufführungspläne für das Theaterspiel, musizierte gern und machte die Bierzeitungen. So erschien er denn jedesmal zu Hause zur Ferienzeit mit einem nicht einwandfreien Zeugnis, dem der Vermerk beigefügt war, man möge Hans doch lieber wieder von der Klosterschule nehmen! Den Weg bis Ilsenburg lief er von Ilfeld aus immer zu Fuß, um das ihm gesandte Postgeld anders verwerten zu können. Die Eltern ließen es an strengen Vermahnungen nicht fehlen, der Vater fürchtete immer, sein filius möchte dieselbe leichtsinnige Ader haben und mißraten wie sein eigener Bruder Hermann, durch den die Familie sehr viel Kummer gehabt hatte, und der nach einem verfehlten Leben eines elenden, verlassenen Todes auf Honolulu starb.

Aber Hans war doch ganz anders geartet. Der frühe Tod seiner Mutter ging ihm tief zu Herzen. Er war damals 14 Jahre alt, und er hatte gehofft, in wenigen Tagen zu Hause ein fröhliches Weihnachtsfest zu feiern. Sie starb am 19. Dezember, und die Trauerkunde traf Hans ganz unvorbereitet. Sie hatte an Brustkrebs gelitten, und ihr Mann hatte sie in der rührendsten Weise immer versorgt. So war aus der herzenskalten, geistreichen Frau zuletzt noch eine milde Gattin und Mutter geworden. Aber als ihr Gatte sich 4 Jahre später nochmals verheiratete und zwar mit einer schlichten, wohlhabenden Hamburger Witwe, da hat er beim Zuschlagen der Tür des Ilsenburger Postwagens bei seiner Abreise gesagt: wer bis dahin immer nur Kuchen gegessen habe, den verlange nach einem ordentlichen Stück Schwarzbrot. Und dies sei der glücklichste Tag seines Lebens!

Für Willi ist es sehr schwer gewesen, daß sich ihr Vater noch einmal verheiratete, denn sie war nun schon über 30 Jahre und längst gewöhnt, den Haushalt mustergültig zu versorgen. Es war ja auch etwas schlimm, daß sie diese Absicht ihres Vaters nicht durch eine offene Aussprache desselben erfuhr, sondern durch das Konzept eines Briefes an Henriette Fraas, geb. Appolt, das er vergeßlicher Weise an einem sehr ungeeignetem Ort hatte liegen lassen. Es soll eine sehr stürmische Szene gegeben haben, denn Willi verstand ihren Vater nicht und nehm es als eine Kränkung der verstorbenen Mutter auf. Als aber die Schwester Sophie inzwischen sich auch nach Hamburg verheiratete und der Alte die Praxis niederlegen wollte, wurde der Ilsenburger Haushalt aufgelöst, und auch Willi siedelte mit dahin über. Nur ein Jahr noch hat der Vater dort mit seiner 2. Frau verlebt. Sie hat ihn rührend treu während seines schweren Leidens (Darmkrebs) gepflegt, und er war ihr von Herzen dankbar dafür, denn sein letztes Lebensjahr ist wohl, abgesehen von der rasch fortschreitenden Todeskrankheit, sein glücklichstes gewesen. Das empfanden auch seine Kinder, doch erst nach seinem Begräbnis boten sie seiner Witwe dankbar bewegt das Du an und erkannten sie als ihre 2. Mutter an. Die Frau aber konnte noch Jahrzehnte später nur in Gedanken an ihren ihr so bald entrissenen 2. Gatten leben und sprach immer mit der größten Achtung und Verehrung von ihm. Auch nahm sie Willi in ihre Häuslichkeit auf, wo dieselbe so lange verblieb, bis ihre Schwester Sophie Berger das 1. Kindchen bekam und ihre tätige Hilfe da nötig und schließlich beim Wachsen der Kinderschar und inzwischen eingetretenen schwierigen Vermögensverhältnissen ganz unentbehrlich wurde. Max und Hans kehrten nun auch oft in ihrer Freizeit bei "Mama Jettchen" ein, wo sie immer die freundlichste Aufnahme fanden. Es war ihr größter Wunsch, daß Hans sich mit einer ihrer Hamburger Nichten verloben möchte. Aber er dachte garnicht daran, hatte er sich inzwischen doch auch schon heimlich mit mir verlobt, d.h. die Eltern wußten es ja! So lud ihn denn Mama Jettchen zum Schluß (ihrer) seiner großen Ferien zu einer Reise nach Kopenhagen ein, und er nahm es mit Freuden an. Als Reisegesellschaft fanden sich aber außerdem noch die beiden Hamburger Nichtchen und ihr Vater ein, und immer deutlicher merkte Hans die Absicht seiner 2. Mutter. In Kopenhagen erzählte er ihr aber, daß sein Herz bereits mir gehöre, und sie fand sich darein und sandte mir noch von dort aus eine entzückende Porzellan-Vase. Ich selbst aber erfreute mich während meines Verlobten Reise der allerschönsten Briefe und Reisebeschreibungen.

Als Hans seinen Doktor gemacht hatte, was zu damaliger Zeit noch vor dem medizinischen Staatsexamen möglich war, wurde unsere Verlobung in der Gladbacher und Kölnischen Zeitung veröffentlicht! Welch ein Besuchen und Beglückwünschen und Blumenbringen setzte da ein! Wir mußten allen Bekannten durch einen Brautbesuch dafür danken, und so traten wir denn, sobald mein eigens dafür angefertigtes Seidenkleid von changeant, rosa Farbe und der duftige Seidentüllhut mit rosa Bändern fertig war, unsre feierliche Visitenfahrt zu etwa 100 Menschen an. Fast überall bekam man Wein und Kuchen vorgesetzt, konnte aber höchstens zum Anstoßen von dem Wein nippen, um der Sitte Genüge zu tun. Auch machten es die sämtlichen nahen Verwandten und Bekannten sich zur Pflicht, das junge Brautpaar zu einem festlichen Abendessen in großer Gesellschaft einzuladen, bei dem nicht selten Aufführungen stattfanden. Jedesmal bekam ich, der rheinischen Sitte gemäß, von den Gastgebern ein Mythenkränzchen und mein Hans einen kleinen Myrthenstrauß für das Knopfloch seines schwarzen Rockes geschenkt, und wir hatten es den Abend zu tragen. Zum Hochzeitstag trägt eine Braut dort zum letzten Mal ihren Myrthenkranz und dazu den duftigen Schleier. -

Hans verließ nun die Würzburger Universität und begab sich nach Berlin, um sich dort unter Virchow, Frerichs, Gusserow und Leyden auf das medizinische Staatsexamen vorzubereiten. Damals stand sein Bruder Max als Stabsarzt an der Charité und der Vetter Fritz Löffler war der Assistent von Robert Koch. So fehlte es denn Hans nicht an Geselligkeit und Anregung. Besonders war er im Löfflerschen Hause ein immer gern gesehener fröhlicher Gast. -

Wir daheim begannen aber das Leinen und die sonstigen Stoffe für die Ausstattung auszusuchen, die ganz nach Clara Buschs ihrer werden sollte. So bekam ich denn eine überreiche Wäscheausstattung. Als Beispiel führe ich an: 8 1/2 Dutzend Bettlaken, von den einfachsten bis zu den feinsten, 4 1/2 Dtzd. Hemden, 2 1/2 Dtzd. Nachthemden u.s.w. Sehr viele davon habe ich mit eigener Hand genäht und gestickt. Ich besuchte noch zusammen mit meinen Cousinen Ruth Schürmann und Käthchen Busch die Industrieschule in Rheydt, wohin wir morgens entweder fröhlich zu Fuß pilgerten oder die Pferdebahn benutzten. Diese gemeinsame Arbeit verband uns Cousinen noch mehr.

In diesem Winter gab es auch oft Gelegenheit zum Schlittschuhlaufen. Wir genossen dieses herrliche Vergnügen nach Herzenslust. Einmal aber war das Eis über dem tiefen Teich schon schwankend geworden, und man hatte uns vor dem Betreten desselben gewarnt. Doch einer meiner jungen Vettern, der sich besonders gut mit mir eingelaufen hatte, wußte uns Mädels zu einem Versuch zu bereden, und so sauste denn auch ich bald an seiner Hand dahin. Plötzlich ein leises Knacken, das Eis wich beim vollen Lauf unter meinen Füßen, und ich fühlte mich in das eiskalte Wasser sinken, breitete aber noch rasch beide Arme aus. Mein Vetter warf sich der Länge nach hin und hielt meine Hand, eine Kette von hilfsbereiten Männern schloß sich rasch an, und so wurde ich denn noch glücklich herausgezogen. Es war weit von zu Hause, und die nassen schweren Kleider klatschten um meinen zitternden Körper, aber ich mußte mich doch so rasch wie möglich vorwärtsbewegen und mich heimgeleiten lassen. Die Eltern waren gerade ausgegangen, so gelang es mir, unbemerkt auf mein Zimmer zu kommen, ein großes Glas schweren Portweis zu trinken, mich ganz umzukleiden und dann wieder ins Wohnzimmer zu gehen und mich gleich fest zugedeckt auf Mamas Chaiselongue zu legen. Ich schlief sofort fest ein und erwachte erst nach mehreren Stunden beim Lampenlicht mit entsetzlich steifen Gliedern. Doch ich wollte nichts sagen und die Eltern nicht ängstigen. Als aber Mama bemerkte, daß ich ein anderes Kleid trug, kam das Abenteurer doch heraus. Nun wollte man gleich zum Doktor schicken, und ich sollte mich ins Bett legen. Aber wir hatten zum Abend die Einladung zum Schlußball meiner Tanzstunde angenommen, und ich wollte so gern mit dahin gehen. Es war zwar eine Pferdekur, aber doch eine gute Kur für meine Steifheit, denn ich geriet durch das Tanzen in eine solche große Hitze und hernach in einen so festen Schlaf, daß ich mich andern Tags ganz gesund fühlte und keine bösen Folgen von meinem Eisbad hatte. Zu Weihnachten kam Hans zu uns herüber, mußte aber, telegraphisch zurückgerufen, schon am 2. Festtag nach Berlin zurückkehren, um als einer der Ersten ins Staatsexamen zu steigen. Und einige Wochen darauf brachte mir das Mädchen eine eben abgegebene Depesche mit dem mir unverständlichen Inhalt: "Nunc est bitendum!" Wohl ahnte ich freudig, was das bedeuten sollte, ärgerte mich jedoch, daß niemand im Hause das Latein übersetzen konnte. Andern Tags ganz früh am Morgen klingelte es schon, und mein glückstrahlender Hans flog mir in die Arme, und nun konnten feste Pläne für die Zukunft gesponnen werden.

Ich muß jedoch noch einer Episode gedenken, die sich in diesem Jahr abgespielt hatte, als Hans schon in Berlin war. Mein Vater war auf seiner Geschäftsreise durch Würzburg gekommen. Die ganze Stadt sprach von dem großen Prozeß, der demnächst gegen einige Mitglieder des Corps Frankonia stattfinden sollte, dem auch Hans angehörte. Es war der Polizei gelungen, die Paukbücher und das Verzeichnis der doch verbotenen Mensuren und Zweikämpfe ausfindig zu machen, doch Näheres wurde noch geheim gehalten. Mein Vater vermutete richtig, daß sein lustiger zukünftiger Schwiegersohn gewiß auch unter den Fechthelden gewesen war, und bestellte sich für den nächsten Monat die Würzburger Zeitung nach Gladbach. Schmunzelnd stellte er gar bald fest, daß der Name von Hans Benzler natürlich unter dem Verzeichnis der Teilnehmer stand, weihte mich, die ich keine Ahnung von allem hatte und immer noch pünktlich 2 x in der Woche Briefe von meinem Verlobten aus Berlin erhielt, in das Geheimnis ein, sagte mir, daß es sich nicht um Schlimmes, sondern um eine Ehrensache handele, und beschloß, daß wir nun auch unsrerseits den bösen Hans etwas hinters Licht führen wollten. Während er längst im Verhör in Würzburg saß, flogen die Briefe zwischen Berlin und Gladbach doch noch regelmäßig hin und her. Schließlich erfuhren wir durch die Zeitung auch den Schiedsspruch: mein Hans war zu 3 Monaten Festungshaft auf Ehrenbreitstein verurteilt, aber zu 3 Wochen begnadigt worden.

Sobald die Eltern ihn dort inhaftiert wußten, wurden ein paar dicke Mettwürste und sonst allerlei Gutes eingepackt, und wir fuhren in heiterster Stimmung zusammen nach Coblenz, um ihn zu überraschen. Ein im dortigen Hotel geschriebener Brief, den ein Eilboten auf der Festung Ehrenbreitstein für den Übertäter abgab, brachte ihn schnell zu uns. Noch sehe ich sein köstlich verlegenes Gesicht, mit dem er zu uns trat! Doch er freute sich riesig und war nichts weniger als reuig, erzählte, wie vergnügt es da oben auf dem Schlosse zwischen Studenten und Offizieren zuginge, und daß das einzig Unangenehme an der Geschichte sei, daß er nach 6 Uhr Abends nicht mehr herausdürfe, über die großen Würste lachte er und meinte, sie seien doch gut genug versorgt. Andern Morgens erstiegen wir den Berg zum Schlosse, nachdem Vater sich auf der Kommandantur die Erlaubnis zu 1 freien Tag für Hans geholt hatte. Da genossen wir so recht unser schönes Wiedersehen! Wie herrlich war doch der Blick auf den sonnbeschienenen Rhein hinab, auf die Stadt Coblenz mit dem Deutschen Eck und ins Moseltal hinein! Vater hatte einen bequemen Zweispänner genommen für den Nachmittag. Wir fuhren zur Muschelkirche auf dem "roten Hahn" und stiegen dort aus, um sie zu besichtigen. Noch vor dem schmucken Kirchlein sind, ähnlich wie in Remagen, die 7 Leidensstationen errichtet. Das Kirchlein selbst ist von eigenartiger Schönheit. Die Innenwände über und über mit Muscheln und glitzerndem Gestein ausgelegt, sie wurden durch Nischen unterbrochen, in denen sich Abbildungen in lebensgroßen Wachsfiguren von großer Zartheit und Schönheit aus dem Marienleben und dem des Heilands befanden. Auch eine Krypta war in ähnlicher Weise ausgestattet. Das ganze machte auf uns, die Evangelischen, einen weihevollen, tiefen Eindruck. Papa hat in seinen letzten Traumbildern vor seinem Ende sich noch einmal in jenes Kirchlein zurückversetzt gefühlt.

Nach dem Staatsexamen ging mein Verlobter zunächst für 1/2 Jahr nach Düsseldorf, um bei dem dortigen Ulanenregiment sein letztes halbes Jahr als 1 jähriger Arzt abzudienen. Das 1. halbe Jahr hatte er mit der Waffe in München gleich zu Anfang seines Studiums abgelegt gehabt. Diese Frühlings- und Sommermonate in Düsseldorf waren wohl die schönsten in unsrer Verlobungszeit. Denn jeden Nachmittag um 3 Uhr war er schon bei mir in Gladbach und konnte bis zum späten Abend bleiben. Nun überlegten die Eltern auch schon ernstlich wegen unsrer Hochzeit. Sie hätten sie gerne mit der eigenen Silberhochzeit zugleich gehabt, andrerseits aber wollte Papa mich ungern schon dann abgeben und meinte, er könne eine Heirat erst dann verantworten, wenn Hans bewiesen hätte, daß er in eigener Praxis eine wirklich gute Existenz für sich und mich gegründet habe. Mama und ich waren im Frühjahr schon in Dresden gewesen, um gelegentlich von Clärchens Confirmation dort auch die Möbel für uns junge Leutchen zu kaufen.

Wir hatten die Tante Küster, entfernte Verwandte von Hans, 14 Tage lang besucht, weil Clärchen dort für 2 Jahre in ihrem Mädchenpensionat war und sie uns sehr herzlich eingeladen hatten. Die Möbel sollten in Dresden bis nach unsrer Hochzeit aufbewahrt werden. So hatten wir die Einrichtung denn schon beisammen. Außer Küch- und Wartezimmerausstattung bekam ich sehr gute Möbel für ein Sprechzimmer, ein Eßzimmer, 2 Wohnzimmer, 2 Schlafzimmer und für die Mägdekammer. Und alles drum und dran von Bildern, Porzellan, Glas, Gardinen und sonstigen Sachen bekam ich auch noch. Auf die Frage, in welcher Gegend sich Hans denn wohl als Arzt niederlassen wolle, hatte er immer geantwortet, nur in einer sehr schönen mit Wald und Bergen und möglichst in Süddeutschland. Doch an eine so weite Entfernung mochten die Eltern nicht denken. Vater studierte eifrig seine Kölnische Zeitung nach Arztbesuchen und hatte im August, als Hans gerade mit seinem Regiment ins Manöver ausgerückt war, eine Annonce gefunden, durch die ein Arzt für eine Kassen- und Privatpraxis in der Nähe von Mülheim a./Ruhr gesucht wurde. Kurz entschlossen teilte mir nun Papa mit, wir beide wollten uns morgen dort einmal persönlich erkundigen. Er hatte in Mülheim gute Bekannte, bei denen er uns rasch ansagte. Vor Tisch trafen wir dort mit der Bahn ein. Aber zu unserem großen Erstaunen kannten sie dort das kleine Nest Holten kaum, ließen aber ihren Hauderer fragen, ob er uns wohl dahin fahren könne? Der bejahte es, doch es sei eine mehrstündige Wagenfahrt. So brachen wir beiden dann noch vor Tisch auf.

Es ging durch Oberhausen, einige kleinere Ortschaften und durch eine ziemlich öde, flache Gegend. Schließlich hielt der Kutscher vor dem Hause des Ortsvorstehers, der uns freundlich bewillkommte. Es waren schon eine ganze Reihe von ärztlichen Anfragen wegen der guten Hüttenpraxis dort eingelaufen, aber noch keiner hatte sich persönlich vorgestellt. So war es mir nicht schwer, für meinen jungen Bräutigam die Versicherung zu erhalten, daß er die Praxis haben solle, wenn er dazu Lust hätte und er das große Haus nebenan, in dem der wegen Unterschlagung flüchtige Bürgermeister gewohnt hatte, von der Gemeinde kaufen wolle. Papa und ich besahen uns gleich das massive und geräumig gebaute Haus und fanden es recht praktisch. Allerdings würden noch allerlei Verbesserungen zu machen sein. Nun waren wir brennend neugierig, was Hans wohl zu dem allen sagen würde? Gleich nach dem Manöver fuhr er denn wirklich mit Papa nach Holten, aber diesmal nicht auf dem Umwege über Mülheim, sondern über Ruhrort-Neumühl. Er fand alles sehr annehmenswert, auch das Haus sehr preiswürdig, hatte schon den festen Abschlußkontrakt gemacht und plante seine baldige Übersiedlung dorthin. Da er bei dem Ortsvorsteher wohnen und essen konnte, ließ er das neugekaufte Haus noch völlig gut in Ordnung bringen und war sehr stolz darauf, es Mama und mir so hübsch zurechtgemacht zeigen zu können. Ich dachte mich schon als junge Hausfrau in das schmucke Holtener Haus hinein, denn die Praxis war wirklich gut, und die Eltern hatten nun auch nichts mehr gegen eine Doppelhochzeit im Frühjahr. Da, 3 Wochen vor unserm auf den 28. April festgesetzten Hochzeitstag, zu dem schon eine große Menge von Verwandten und Bekannten, ungefähr 300 Personen (von denen 143 kamen) eingeladen waren, bekam Hans die überraschende Aufforderung aus dem Holten ganz nahe gelegenen Sterkrade, in dem das Hüttenwerk lag, sich dort als Arzt hinzumelden. Und richtig - er bekam gleich die dort noch weit bessere und vor allem viel bequemere Praxis. Sterkrade hatte damals schon Bahnverbindung, Holten noch nicht. Wenn auch Holten eine Stadt war und Sterkrade nur ein Flecken, jenes 6000 und dieses gar 11000 Einwohner zu jener Zeit hatte, so war doch Sterkrade entschieden vorzuziehen. Nur keine Wohnung dort frei! Doch mein guter Vater wußte schließlich noch ein Häuschen im Mittelpunkt des Ortes auszukundschaften, dessen Mieter einen Monat später ausziehen wollten, und gab denselben eine hohe Abfindungssumme, damit wir es schon im April zur Verfügung gestellt bekämen und in aller Ruhe ausbessern, tapezieren und einrichten lassen könnten. Wir waren also recht glückliche Menschenkinder, daß uns alles so gut gelang! Zur Hochzeit kamen auch schon ein paar Tage vorher eine ganze Reihe von Hansens Verwandten, außer den unsrigen, und unser Haus, wie die Wohnungen von Peltzers, Buschs und Schürmanns, waren mit Gästen gefüllt. Es begann eine Reihe von Festtagen. Besonders bei Peltzers, die ein wunderschönes Haus besaßen, ging es sehr großartig zu, und den Vettern behagte das rheinische Leben sehr. Besonders mein Schwager Max und sein Intimus Ernst Benzler kamen überhaupt nicht aus der Weinstimmung heraus und verliebten sich außerdem gründlich in 2 meiner Gladbacher Cousinen, die sie aber abblitzen ließen. In meinem Elternhause herrschte ein besonders reges Treiben. Mama hatte auch noch den Sterkrader Küster, der bei den Hüttendirektoren an ihren Gesellschaften servierte und der ein sehr zuverlässiger und gewandter Mann war, für diese Woche engagiert, ebenfalls eine perfekte Köchin besorgt, die ihr die Sorge für die Beköstigung der vielen Menschen abnahm. In unserm Hause logierten außer Max und Ernst Benzler auch noch Tante Auguste Haushahn, geb. Benzler, mit ihrer Tochter Sophie, Hermann Benzler aus Nordhausen, "Mutter Jettchen" aus Hamburg, Tante Agnes Benzler, geb. Ewald, aus Halle und Mutters einziger noch lebender Bruder, Onkel Hugo Schürmann, der uns trauen sollte. Am Morgen des Hochzeitstages ging alles bei uns ziemlich durcheinander. Man hatte noch ein reichhaltiges, kaltes Frühstück zu sich genommen und sich dann zurückgezogen, um sich in die Hochzeitskleider zu werfen und sich von der viel begehrten Friseuse möglichst schön und kunstvoll frisieren zu lassen. Nur ich lief noch unten in den Wohnzimmern, mit meinem einfachen Morgenkleidchen angetan, herum, um das Silber in Verwahrsam zu geben. Da kam schon meine Kränzchenfreundin Lieschen mit dem frischen Brautkranz und rief: "Was, Delchen, Du läufst hier noch herum? und alle andern sind schon fertig? Und schon fahren sie in den Wagen zur Kirche! Rasch, rasch!" Schnell rannte ich mit ihr auf mein Mädchenstübchen, wo schon das weißseidene Brautkleid und der zarte Schleier bereit lagen, ordnete mein Haar auf die gewohnte schlichte Art und ließ mir von Lieschen beim Anlegen der Sachen helfen und mir Schleier und Brautkranz feststecken. Unten stand im Hausflur schon wartend mein Hans, küßte mich und wollte schon mit mir zur Tür hinausgehen und in den längst wartenden Wagen steigen. Da fiel ihm noch etwas ein. Er nahm ein Goldstück aus seiner Geldtasche und bat mich, es doch in meinen weißseidenen niedrigen Brautschuh zu schieben, denn das sei so ein Brauch in seiner Heimat, wo man sage, solange man das Geldstück vom Hochzeitstag noch besitze, würde man keinen Mangel leiden.

Lachend tat ich, wie er wollte, und nun schritten wir durch die auf der Straße angestaute gaffende Menge unserm Wagen zu, der uns rasch zur Kirche brachte. Da aber hatten sich mehrere hundert Kinder schon aufgestellt, alles Schülerinnen der beiden Sonntagsschulen, an denen ich so gern tätig gewesen war, und es raunte und flüsterte: "Unser Fräulein! Ach, wie schön sieht es heute aus! Unser Fräulein!" Wuchtige Orgelklänge ertönten bei unserem Eintritt, und als wir vorm Altare standen, sangen die Gäste das Lied, das sich Hans für diesen Tag ausgebeten hatte: "0 selig Haus, wo man Dich aufgenommen, Du wahrer Seelenfreund, Herr Jesu Christ! Wo unter allen Gästen, die da kommen, Du der gefeiertste und liebste bist - u.s.w." Schon während des Gesanges verdunkelte sich die Kirche immer mehr, und ein heftiges Gewitter zog auf, Blitz und Donner folgten einander. Ich dachte einen Augenblick: "Ach, wenn das nur nicht so in unsrer Ehe kommt!" Aber ich hatte ja nun einen Schutz an dem starken, festen Mann, der an meiner Seite stand! Und gerade, als Onkel Hugo seine und meine Hand segnend in einander legte, fiel ein breiter Sonnenstrahl durch die hohen Kirchenfenster vor unsre Füße, es lichtete sich draußen schon wieder, und im Sonnenschein traten wir in unser nun bis zum Tod unlösbar verbundenes gemeinsames Leben hinaus! -

Ende des ersten Teils.