Nachfolgende Briefchen erhielt die Montessori-Lehrerin Irene Dietrich (8.11.1896-l4.11.1996) zu ihrem 4. bzw. 5.Geburtstag. Sie zeigen die Vorstellungswelt, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts Kindern nahe gebracht wurde.
 

An Irenchen zum 8.November 1900
Potsdam,d.6.11.1900
Meine geliebte Inni!
Wenn dieser Brief bei Dir ankommt, dann ist ein Schöner Tag, Dein Geburtstag, vor 4 Jahren brachten Dich die lieben Engel und legten Dich auf Muttis Schoß. Da warst Du ganz klein, so klein wie Deine Wickelpuppe ist, aber nun bist Du ein großes Mädel, kannst sprechen und laufen, singen!! und springen und verstehst es schon, wenn Mutti die schönen Geschichten vom lieben Heiland erzählt. Er will Dich gern, wenn Du in den Himmel kommst, auch auf seinen Schoß nehmen und Dich segnen und seine Hände auf Deinen Kopf legen und Er sieht jetzt schon immer ob Inni ein liebes Kind ist und Alles thut, was der Herzvater und Mutti haben wollen. Dazu helfe Er Dir im neuen Lebensjahre und lasse Dich frisch und fröhlich spielen und essen und trinken und immer schön schlafen hinter dem neuen Bettschirm. Der liebe Potsdamer Großvater hat Dir einen warmen Mantel geschenkt und Großmutter schickt Dir rosiges Zeug zu einem Kleide, das macht die Mutti bald, dann bist Du ein Röschen mitten im Winter. Nun laß Dich herzen und küssen vom Großvater und Deiner Dich sehr liebenden Großmutter.

Großvater: Reinhold Trinius, Schulrat in Potsdam
Großmutter: Marie geborene Harzmann
Herzvater: Herr Dietrich, Mutti: Helene geborene Trinius
("Rotes Buch" Seite 28)
 

bei Emile Benzler-Harzmann
Drübeck, d. 5.11.01
Mein herziges Geburtstagskind!
5 tüchtige Kneifküße soll die Mutti an Deinem Geburtstag geben, für jedes Jahr einen von Deiner Patentante Käthe, die den lieben Gott bitten will, daß Du recht brav und fromm werden mögest und immer solch ein süßer Sonnenstrahl bleibst, wie jetzt. Gar zu sehr habe ich mich über Dein liebes Briefchen gefreut und ihn gleich der lieben Tante Milly vorgelesen. Also ein Sternlein bist Du gewesen! Da hast Du gewiß schnell einmal in den schönen Himmel geguckt, wie es bei den lieben Englein aussieht. Das muß gar schön sein in dem Kindergarten, da möchte ich auch gleich solch kleines Mädchen sein, wie Du, und den ganzen Tag spielen u. Verschen lernen. Gehst Du denn an Deinem Geburtstag auch hin oder bleibst Du zu Haus bei den neuen Spielsachen? Vielleicht hat es Großmutter nicht vergessen und Dir von mir einen kl. Mopsball mitgeschickt, weil doch der Hannibal fortgeschwommen ist. Sonst bekommst Du ihn zu Weihnachten. Denke mal, Grauchen ist gar nicht mehr hier, das wohnt jetzt auf einem hohen Schloße und ein kl. Prinz und ein Prinzeßchen spielen mit ihm, gerade wie in einem Märchen. Aber dafür ist jetzt ein reizendes Ponychen hier, das hat beinahe so blonde Haare wie Du, aber 4 Beine, mit denen es tüchtig hopsa machen kann. Heute hat Liese (so heißt es nämlich) Tante Trudchen und mich spazieren gefahren, ganz weit weg, ins Ilsetal hinein, das war zu schön. Die liebe Sonne schien und beleuchtete den Ilsestein und das Kreuz darauf und die kleine Ilse plätscherte und die dunklen Tannen rauschten dazu und die Buchen hatten ganz rote Kleider angezogen, wie gewiß auch bei Euch in Israelsdorf. Mutti soll Dich mal in der Dämmerstunde auf den Schoß nehmen und Dir erzählen, wie schön es hier ist. Nun grüße und küße Herzvater u. Mutti, auch alle Kümmelchens und den Großpapa, wenn Du ihn mal besuchst. In zärtlicher Liebe Deine Tante Käthe.

Tante Käthe (Katharina) Komorowski geborene Trinius (Schwester der Mutti)